Wie wir uns dem Rückfall entziehen!

 
 

Rezension von Kilian Jörgs Essay Backlash (Textem Verlag)

Von Dominik Irtenkauf


Die politische Landschaft bewegt sich derzeit in eine gefährliche Richtung. Das hängt nicht nur mit Corona zusammen. Das Erstarken (rechts-)populistischer Bewegungen, der zunehmende Verlust einer eigenen kritischen Mitte und die Indifferenz gegenüber dem ökologischen Kollaps unseres Planeten führen zu einer Rückwärtsbewegung. Dies beinhaltet eine Rückkehr zu überwunden geglaubten Haltungen und Verhaltensweisen.

 Der Wiener Philosoph und Aktionskünstler Kilian Jörg fasst diese Rückfälle in seinem Buch Backlash. Essays zur Resilienz der Moderne zusammen. Es erscheint als „Kleiner Stimmungsatlas“ in der entsprechenden Reihe beim Textem Verlag. Die Stimmungsatlanten haben zur Absicht, ein Thema von verschiedenen Blickwinkeln zu erfassen und in dem Kleinformat wahrlich als Taschenbuch in jede beliebige Hosen- oder Jackentasche zu passen.

Aufmerksam auf dieses Buch wurde ich durch ein Kapitel, das sich mit dem Autoregime auseinandersetzt. Jörg führt aus, wie das Auto uns in einen ständigen Rauschzustand versetzt, durch den Lärm, den Gestank, die Gefahr auf der Straße, die Überall-Mobilität der Autos. Zugleich verlangt das Auto nach einer Glätte, da es nur auf ebener Fahrbahn schnell von A nach B kommen kann. Diese Glätte beschränkt sich nicht auf die Oberfläche der Straßen, sondern bietet sich als wichtige analytische Kategorie des Kapitalismus an:

Um eine fortlaufende Produktion zu garantieren, muss die (metaphorische) Maschinerie gut geölt sein. Diese Glattläufigkeit, wie man es behelfsweise nennen könnte, sorgt für die Einebnung von Unterschieden, so etwa auch zu einer Monopolisierung des Straßenverkehrs. So Kilian Jörg. Er ordnet das Autoregime in ein gesellschaftliches Gesamtbild, das von Männerherrschaft geprägt ist.

„Das Auto ist bei dieser politischen Komponente der Resilienz der Moderne selbstverständlich nicht die einzige Triebfeder – die Strukturen der modernen Subjektivierung reproduzieren sich in unzähligen Schichten wie z.B. in der Schüler_in, der Skifahrer_in, der Fitnessstudiobenutzenden, der Drohne etc. Doch im Automobil konzentrieren sich die Parameter und Weiterführungsstrategien der modernen Norm.“ (S. 97-98) Dazu gehören die Ausrichtung auf eine glatte Landschaft, die der mobilen Maschine keine Widerstände entgegensetzt. Jörg weitet das noch auf die Mentalitätsgeschichte aus, indem er das Auto als Teil einer toxischen Männlichkeit ausmacht. Wenn sich auch für die weibliche Hälfte der Gesellschaft langsam etwas ändert, machen nach wie vor Männer durch ihre Reden und den Einfluss in der Kulturwelt etwa, wie auch Politik und Ökonomie, das große Gewicht der Öffentlichkeit aus. Das erstreckt sich auch auf souveräne, feministisch gewogene Moderatoren wie Jan Böhmermann, die sich letztlich eben doch wieder als Männer in den Vordergrund rücken. Es ist ein Teufelskreis. Das vorliegende Taschenbuch überlegt, ob es nicht mehr Räume für Männer bräuchte, um diesem Backlash, einem Rückfall (wie bei einer Krankheit?) zu entkommen. Jörg schreibt von Männern, die der vermeintlichen Verantwortung eines Patriarchen entlaufen, die sich für ein Leben jenseits einer traditionell verstandenen Männlichkeit entscheiden. Doch er stellt auch fest: „Wir sind allerdings in eine Phase des Spätkapitalismus eingetreten, in der sich das System vermehrt durch die Abweichungen von der Norm als durch die Norm antreibt. Der Patriarch existiert zwar noch, doch das Weglaufen vom Patriarchen bedeutet nicht das Ende des Patriarchats. Es bleibt noch viel Arbeit zu tun.“ (S. 139)

Zu dem Buch tragen noch weitere Autor*innen mit kurzen, teils manifestartigen Texten bei. Zwischen den Essays finden sich Handlungsanweisungen, die überraschende und dennoch einfache Tipps geben. So zum Beispiel: Wenn du spürst, dass deine Männlichkeit zerfällt, versuche nicht, sie zu reparieren, sondern lasse sie zerbröseln. Oder stelle dir vor, wenn du durch die Stadt auf dem Fahrrad fährst, es gebe keine Bremse. Was aus diesen Erfahrungen resultiert, liegt im Ermessen der Leser*innen. Indem Kilian Jörg und sein Team diese Handlungsanweisungen, die eher als Vorschläge zu werten sind, zwischen die theoretischen Essays setzen, wird dem Phänomen Backlash eine Offensive entgegengesetzt. Es geht nicht allein um philosophische Analyse, sondern Praktiken, die umsetzbar sind. Jörgs Analysen fügen sich durchaus in den akademischen Ton ein, aber überraschen immer wieder durch interessante Verknüpfungen und Metaphern, wie zum Beispiel bei der Erörterung des philosophischen Begriffs „Grund“. Ausgehend von der journalistischen Feststellung, dass die Wahlen für Backlash-Parteien, also: Rechtspopulisten von einer Angst ausgehen – „So soll es die Angst um Zukunft und Sicherheit, vor sozialem Abstieg und vor Neuem, vor Frauen, Schwulen und Fremden sein, die das Verhalten der falsch wählenden bestimmt.“ (S. 151) – geht er dem Alltagswort „Grund“ nach, gelangt dann rasch zur begriffsphilosophischen Geschichte des „Grundes“. In der Antike hat ein Männerverein an der platonischen Akademie zu Athen den Grund „entkosmologisiert“ und ins Ideenreich verwiesen. So einfach gelangte man nicht mehr zum Grund, aber wenn mir im Gespräch oder im Schreiben der Grund fehlt, worauf soll ich meine Argumente bauen?

In der Fußnote spricht Jörg von „Zufahrtsstraßen“, die sich eine Männerwelt auf diese Weise sicherte. Die Begrifflichkeit mag auf den ersten Blick salopp klingen. Im weiteren Kontext jedoch ergibt sich ein tieferer Sinn, wenn Kilian Jörg den Parameter „Glätte“ nicht allein auf die Welt des Automobils beschränkt, sondern als Erkennungsmerkmal des Kapitalismus einführt. Der Gewinn soll sich noch vervielfachen, wofür Wachstum notwendig ist.  

Kilian Jörg verfolgt da einen deutlich anderen, kritischen Weg. Seine Essays in „Backlash“ überlegen auch den Zustand nach der Coronakrise. Welche Chancen verschafft uns ein Lockdown der Wirtschaft? Thesen und Argumente auszusprechen, die zunächst wie ein Tabu klingen, gehört zu Jörgs Stil. Ob etwas Tabu ist, hängt erneut von der Ausgangslage und den Menschen ab, die etwas als solches deklarieren. Die Überzeugung, dass alles in allen Bereichen, vor allem jedoch im Geldsektor, glatt laufen muss, führt zur Einebnung der definitiven Unterschiede.  

Die bereits angesprochenen Handlungsanweisungen im Buch sind eine Möglichkeit, dieser Übermännlichkeit zu entkommen. Dass man einer übertriebenen Identifikation mit dem eigenen Geschlecht entkommen möchte, ist eine unausgesprochene Voraussetzung. Wer sich lieber mit seiner Identität beschäftigt, um sich von den Anderen abzugrenzen, wird kaum dieses kleine Buch erwerben. Denn es stellt die eigenen Stärken in Frage: Wenn Jörg selbst ein Mann ist, die männliche Übernahme des diskursleitenden Wortes jedoch kritisiert, dann stellt er seine eigene Stimme in den Schatten der Anderen, für die er die Stimme erhebt. Ein ähnliches Problem stellt sich beim Exotismus in der Literatur, wenn marginale Kulturen angeeignet werden und in diesem Prozess der „edle Wilde“ in verschiedensten Ausformungen suggeriert wird. Die eigene Stimme hebt sich in den Vordergrund und übernimmt für diejenigen, die nicht unsere Sprache sprechen oder die ungehört sind, den Redepart. Was sich im Rahmen einer Aufklärung sehr gut anhört, verbirgt die Machtstrukturen, die durch ein Sprechen für Andere zustande kommen.

Jörg löst dieses Dilemma, indem er die eigene Position reflektiert: Aus einer anthropologischen Beobachtung, dass sich der Mensch meist nicht in seiner Umwelt wohlfühlt, resultiert eine Unsicherheit, die nicht durch Brutalität, Wut oder Klugscheißerei übertüncht werden muss. Diese Unsicherheit gilt es auszuhalten. Jörg führt in seinen Essays jedoch aus, dass gerade dieser „Mangel“ vehement bekämpft wird, bis hin zur Auslöschung des störenden Elements. Dies bildet das Fundament für neue beängstigende Bewegungen, die sich global als Rechtspopulismus zeigen. Es eigentlich schon immer besser gewusst zu haben und die Ordnung klar vor Augen zu haben, wer kennt nicht solche Mentalitäten aus dem Netz?

Dem wird ein Spiel gegengesetzt: Stelle dir vor, du atmetest all die Auspuffgase ein und stelltest dir ein Paradies vor. Eigentlich würde ich meine Nase bedecken, bereits vor Corona, um nicht Opfer einer Abgaswolke zu werden. Doch die Übeltäterin wird zu unserer Verbündeten. Diese Handlungsanweisungen legen ein solches widersprüchliches Verhalten nahe. Es würde mich nicht wundern, wenn auch Jesu Bergpredigt Pate für diese Anweisungen gestanden hatte, bis zu einem gewissen Grad. Man geht eine widersprüchliche Praxis ein, die den gängigen Erwartungen nicht entspricht und drückt so seinen Einsatz für das Wesentliche aus. Die Wahrnehmung verändert sich und der Blick schärft sich für die Mehrdeutigkeit von Welt. Wie ist es, Maschinenmogul für einige Zeit zu sein? Belastend, für andere jedoch erhebend, denn sie erheben sich tatsächlich über ihre angestammte Umgebung. Macht man sich dann nicht mit der bekämpften Sache gemein? Das Auto als geiles Gefährt durchs Gebirge? Geht das als Aktivist gegen Auto-Lobbyismus? Kilian Jörg behauptet: Ja. Man könne sich von eigenen Bedingungen und Bedingtheiten nicht lossprechen. Daher müssten sie offen liegen. Der Verfasser schildert seine Suche nach einer geschlechtlichen Identität. Macht sich dadurch verletzlich, die Häme im Netz lässt sich bereits vorahnen. Stichwort: Toxische Männlichkeit. An dieser Stelle bevölkern die Monstren unserer Hirne die Seiten. Was abseits liegt, macht Angst.

An diesem Punkt macht ein konstruktiver Vorschlag Jörgs Sinn. Er schlägt vor, nicht der einen Vernunft zu folgen, sondern „de[m] zentralen Wert des Minoritären, der Subszenen und Untergründe“ (S. 201). Das Werden vollzieht sich auch ohne Zutun des Menschen, die Moderne trägt sich laut Jörg unweigerlich ab „und eine neue ökologische Stabilität jenseits des Anthropozäns wird sich einstellen.“ (S. 203) Um diese Zukunft aktiv mitgestalten zu können, ist es notwendig, aus den üblichen Routinen auszubrechen. Was sich so einfach niederschreibt, zudem wie aus einem beliebigen Manifest klingt oder einem interventionistischen Artikel, der die genaue Beobachtung der Gegenwart überschreiten möchte – ist in der Tat alles andere als einfach. Hier helfen Werkzeuge, die Jörg in seinem Buch andeutet: Nicht nur die Handlungsanweisungen, sondern ein offenes Ohr für Texte. Der Rückzug auf den Text könnte als einfallslos bezeichnet werden, weil ein Autor sein liebstes Objekt und seine liebste Tätigkeit in den Vordergrund rückt, und zwar wiederum im Medium der Schrift – die Kritik an einer solchen Verschriftlichung der Welt zieht sich durch die postmoderne Philosophie (Wird von Jean Baudrillard etwa in die Virtualität erweitert oder von Hélène Cixous gegen die Übermännlichkeit der Schriftstellerei gelesen.) – doch letztlich geht es hier nicht um eine unzugängliche Sprache (lies: Akademikerdeutsch), sondern um das Erzählen von Geschichten. Wer hört nicht gern Geschichten und setzt diese fort? Einem Backlash entgegenzutreten, wird durch die Erweiterung der menschlichen Fantasie möglich. Stell dir vor, du bist heute ein anderer Mensch! Und wenn es dir gefällt, dann halte daran fest, dass du anders bleiben wirst!

Es stimmt, dass man selbst gerne da abgeholt wird, wo man sich wohl fühlt. Wenn Kilian Jörg auf eine Science Fiction-Kurzgeschichte der US-Autorin Ursula K. LeGuin verweist, dann zeigt sich hier eine ökologisch und anthropologisch bewusste Literatur, die unter die Science Fiction fällt, weil sich LeGuin stets für Fremdheit und Kontakt mit dem Anderen interessierte. Die angstbesetzte Wahrnehmung von Etiketten, die Ordnung schaffen sollen, um sich selbst als Identität erst schaffen und absichern zu können, wird angesichts einer drohenden ökologischen Katastrophe hinwegschmelzen.

Was interessiert Viren und Bakterien, die auch nach einem Weltuntergang (realer, nicht religiöser Art) ihren Platz in der Ökologie unseres Planeten finden werden, eine Identität als alter weißer Mann oder als umweltbewusster, aber fremdenfeindlicher Volkskernmann, der sich gegen die eigene Bedeutungslosigkeit auflehnt, dafür ihm nicht genehme Lebensentwürfe und Herkünfte nicht nur diskreditiert, sondern diffamiert, in dem Glauben, dadurch an Lebensqualität und Planetenzeit zu gewinnen? Kein Stück. Sie laben sich am verendenden Leben und bauen aus der gefallenen Zivilisation eine neue Umwelt.

Jörg erkennt dies und fordert einen neuen Experimentierraum, in dem eben ein Vorwärtssprung und nicht ein Rückfall möglich wird: „Um diesen Feedbackschleifen zu entkommen, müssen Wege aus dieser selbstreferenziellen Logik des Abendlands und seiner Vernunft gefunden werden. Es gilt, anderen menschlichen und nicht-menschlichen Völkern zuzuhören. Entwickeln wir Sprachen über Kulturgrenzen hinweg, die uns die Metaphysiken und Vernunfteinsichten der Auberginen erläutern.“ (S. 58-59) Dieser Gedanke entstammt Ursula K. LeGuins Kurzgeschichte The Author of the Acacia Seeds aus dem Jahr 1974. Darin wird der Erforschung von „Sprachen und Poesien von Tieren, Pflanzen und Gesteinen.“ (ebd.) viel Raum gegeben. Einfach wird es nicht sein, diese Grenzen hinter sich zu lassen. Diverse Tiere und Pflanzen werden uns sympathischer sein. Andere stoßen uns ab. Es geht hier jedoch gar nicht um einen objektiven Prozess, sondern um ein persönliches Überwinden der alten Regeln. Statt Rück- bitte Fortschritt. Aber nicht, ohne neue Wurzeln zu schlagen! Der Umwelt zuliebe. Und Wurzelschlagen bedeutet auch immer eine lebendige Diskussionskultur, die sich zu orientieren weiß. Vorliegendes Buch bietet hierfür eine sehr gute Starthilfe. Denn welcher freiheitsliebende Leser möchte schon folgendes erleben, sobald er den Fuß vor die Haustür setzt?

„Der exzentrische Selbstbezug und die radikale Abschottung von anderen Lebensbezügen haben eine radikale Landnahme und Anthropogenisierung des Planeten ermöglicht. Und die wiederkehrenden Backlashketten der Resilienz der Moderne machen das Leben immer monotoner, hässlicher, ungesünder und tödlicher.“ (S. 58) Wo wirft jener Mensch, der/die dieses hier liest, seinen Anker? Die Frage hallt lange nach. Schließlich macht sich Stille breit. Haben wir ihn/sie übersehen? Sind sie untergetaucht, während wir uns Gedanken zur Erosion der Politik und ähnlichem machten? Wir stehen auf wankendem Grund – merken wir dies? Indem wir auf Sand unser Gleichgewicht zu halten suchen? Den Anker werfen wir zu den Gefährten rüber, die unter Wagemut eben nicht Ausbeutung verstehen, sondern die gemeinsame Reise, auch durch unwegsames Terrain. Wenn die Zeit immer knapper wird, dürfen wir das Ausprobieren nicht aufgeben. Notfalls muss dieses rückerobert werden, auf nicht-vereinnahmende Weise.

Ein guter Anfang wäre, mehr Verknüpfung zu wagen. Zusammen zu denken, was zuvor als spaltend empfunden wurde. Einfach wird das nicht, aber wer hätte das auch behauptet?


Kilian Jörg: Backlash

Essays zur Resilienz der Moderne

 

Leseprobe

 

Kleiner Stimmungs-Atlas in Einzelbänden
Hg. Gustav Mechlenburg, Nora Sdun
Gestaltung: Christoph Steinegger/Interkool
Bd. 27 – B: Backlash. Essays zur Resilienz der Moderne, Kilian Jörg

Textem Verlag, Hamburg
ISBN: 978-3-86485-139-1
16 Euro

 
Tom AmarqueComment