Was im Leipziger Stadtteil Connewitz passierte
Eskalation und Kommunikation aus resonanztheoretischer Perspektive
von Matthias Thiele
Wirft man einen allgemeinen Blick auf die Sozialwissenschaften von Psychologie über Soziologie bis Anthropologie, zeigen sich ihre enorme Vielfalt, ihre unzähligen Einzelbefunde, aber auch ihre Unverbundenheit. Mit dem Blick aus der Distanz fällt das Fehlen eines verbindenden Überbaus, eines strukturellen Formelwerks auf, das all diese Theorien, Modelle und Befunde durch eine strukturelle überspannende Architektur an ihren passenden Platz rücken könnte. Mit Fug und Recht lässt sich behaupten, die Psychologie befindet sich an einem Punkt, der jener der Physik vor Einstein, Bohr und Heisenberg entspricht[1].
Dabei stehen die Sozialwissenschaften, im Gegensatz zur Physik, zusätzlich vor dem Dilemma, dass sich oft genug Untersuchungsgegenstand und Untersucher nicht streng genug voneinander trennen lassen. Man versucht dem Problem zu entgehen, indem man Individuum (den Untersucher) von Gruppen (Untersuchungsgegenstand) unterscheidet. Doch sind Individuum und Gruppe tatsächlich verschieden genug? Ist das Individuum nicht, wie einige Befunde und Theorien aus der Sozial- und Entwicklungspsychologie nahelegen, eine Ableitung aus Gruppenphänomenen, ohne die sich keine Individualität herausbilden würde? Das alles sind schwierige Fragen, auf die es bislang keine befriedigenden Antworten gibt.
Ein weiteres Problem der Sozialwissenschaften, besonders der Kommunikations- und Handlungsmodelle, besteht in den rasanten Veränderungen der Bedingungen sowohl innerhalb als auch zwischen Gruppen, etwa durch die Digitalisierung von Kommunikation und Informationsübertragung.
Um diese Probleme lösen zu können, bedarf es neuer oder aktualisierter Modelle, die die neuen Verhältnisse aufgreifen und in ihre Prämissen einzuarbeiten vermögen. Um das Neue überhaupt denken zu können, brauchen wir erst einmal eine dazu geeignete Sprache. Eine solche Sprache sind in den Wissenschaften entsprechende Modelle und Paradigmen. Sie generiert sich ebenso durch die Übertragung von Meta-Einsichten in verstehbare Formeln, wobei diese Formeln nicht zwingend mathematischen Charakter tragen müssen, wohl aber von der bisherigen Wissenschaftssprache verstanden werden sollten.
Greifen wir ein wichtiges Phänomen, das sich innerhalb der letzten zwanzig Jahre einer komplexen Wandlung unterzogen hat, heraus:
Alle älteren Kommunikationsmodelle beschreiben die Prozesse der Kommunikation implizit oder explizit als sequenziell. Das heißt beispielsweise, dass die Botschaft eines Senders geistig formuliert wird, anschließend in gesprochene Sprache transformiert, über Schallwellen an die Ohren des Empfängers dringt, dort gehört, geistig verarbeitet und eine Antwort formuliert wird, die ebenso wieder gesendet wird. All diese Schritte sind in diesen Modellen Sequenzen, die behandelt werden, als folgten sie nacheinander. Diese Sequenzialität lässt sich beliebig in die Details auffächern, etwa indem das Mindset des Senders berücksichtigt wird, das des Empfängers, die Umgebungsfaktoren einbezogen werden und vieles mehr. Und dennoch setzt die Sequenzialität eine Zeitungleichheit all dieser Prozessschritte voraus, eine Zeitungleichheit, die historisch sicher richtig gesehen wurde, gerade wenn es um Kommunikationen über große Distanzen ging. Heutige Kommunikation aber verläuft vor allem durch die Digitalisierung in einer faktischen Zeitgleichheit. Die Folgen dieser Zeitgleichheit von Kommunikationssequenzen sind enorm und lassen sich mit herkömmlichen Modellen nicht mehr erklären.
Karl Friedrich von Weizsäcker prägte die Begriffe von „Ebenen“ der Naturwissenschaften, in denen ein Paradigma ausreichte, um die anstehenden Probleme wissenschaftlich zu lösen. Allerdings begännen sich mit der Zeit die Probleme zu häufen, bis sie mit dem herrschenden Paradigma nicht mehr zu bewältigen seien. Die damit entstehende Krise innerhalb der Wissenschaft kulminiere dann in einer Revolution, die das alte Paradigma durch ein neues, brauchbareres ersetze. Auf lange Phasen der Ebenen folge also eine relativ kurze Phase der Revolution, die neue Paradigmen hervorbringe und dann gegebenenfalls wieder in eine längere Ebenen-Phase münde, sofern sie auf befriedigende Weise die Probleme löse. So geschah es der Physik im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhundert, und es deutet vieles daraufhin, dass den Sozial- und Humanwissenschaften eine solche Phase der „blitzartigen Revolution“ bevorsteht.
Bestimmte neuere Probleme können mit dem alten Paradigma sequenzieller Kommunikationsmodelle schlicht nicht mehr gelöst werden. Zwar werden Analysen angeboten, Erklärungen konstruiert, doch die Probleme selbst bleiben ungelöst. Eine wissenschaftliche Theorie aber erhält ihren Wert durch ihre Anwendbarkeit, also durch ihre Potenz, Probleme effektiv zu lösen. Aktuelle Beispiele für solche Probleme sind etwa digitale Shitstorms, häufiger werdendes aggressives Verhalten von Schülern in Schulen, die steigenden psychosomatischen Erkrankungsraten von Lehrern, soziologische und politische Phänomene wie die gescheiterten Revolutionen in den arabischen Ländern, aber auch Großereignisse wie die Gelbwestenbewegung in Frankreich, in der Wirtschafts- und Unternehmenspsychologie die öffentliche Wahrnehmung und Wirkung von Marken und natürlich die globalen Finanzbewegungen. All diesen Ereignissen wohnt vermeintlich eine seltsame unbeeinflussbare Gesetzmäßigkeit inne. Der Grund dafür aber liegt vielmehr darin, dass zur Beschreibung dieser Phänomene Modelle herangezogen werden, die zur Lösung von Problemen des letzten Jahrhunderts und damit unter völlig anderen Bedingungen entwickelt worden waren. Im Grunde ist das so, als versuche man die Wirkungsweise eines Atomkraftwerks mit Hilfe Newtonscher Mechanik zu erklären.
Ansätze zu einem Paradigmenwechsel auch in den Sozialwissenschaften gibt es bereits. Ihre Ursprungsorte sind die Soziologie, die Philosophie und – im Moment eher selten – die Psychologie und die Neurologie.
Beschränken wir uns exemplarisch auf zwei solcher Ansätze: Das Resonanzmodell des Soziologen Hartmut Rosa und die Sphärologie des Philosophen Peter Sloterdijk.
Beiden ist gemeinsam, dass sie den aus der Physik bekannten Feld-Begriff in die Sozialwissenschaften tragen und damit den bisherigen Charakter der Sequenzialität menschlicher Interaktion durch das Aufspannen einer Metaperspektive überwinden. Was bisher nur einzeln und nacheinander untersucht werden konnte, könnte auf dieser Grundlage nun in einem Block und als ein zusammenhängendes Ganzes betrachtet werden.
Vergleichen wir den Grundgedanken des Feldbegriffs noch einmal mit dem der Physik. Eine sequenzielle Untersuchung dort könnte bedeuten, das Verhalten von zwei Magneten und im Anschluss das Verhalten von Eisenspänen, die man zwischen diese wirft, zu beschreiben. Das Ergebnis wäre ziemlich unbefriedigend. Der Feldbegriff hingegen richtet die Aufmerksamkeit auf jenes Dritte zwischen Magneten und Eisenspänen, auf das magnetische Feld also. Dieses ist die eigentlich interessante Wirkkraft und die Eigenschaften von Magneten und Eisenspänen können dadurch als Teil des Wirkgefüges dieses Feldes verstanden werden.
Überträgt man dieses Gleichnis auf Kommunikationsmodelle, rückt das „Feld“ in den Fokus, das durch die Interaktionen der Beteiligten entsteht. Hartmut Rosa nennt diese Felder, die durch menschliche Beziehungen entstehen, Resonanzfelder.
In der Physik spricht man von Resonanz, wenn ein Objekt in der gleichen Frequenz schwingt wie ein zweites, wobei das erste Objekt das Schwingen zweiten Objekts initiiert, sofern dieses über resonanzspezifische Eigenschaften verfügt, die mit denen des ersten Objekts korrespondieren. Ein Beispiel wäre die Saite einer Geige, die eine gleichgestimmte Saite eines anderen Instruments mitschwingen lässt. Ebenso bildet der Korpus der Geige einen Resonanzkörper, der durch das Schwingen der Saiten mitschwingt, und so rückwirkend auch das Schwingen der Saiten verstärkt und damit einen unverwechselbaren Klang hervorrufen kann.
Die resonanztheoretische Erweiterung des klassischen Kommunikationsmodells
Allen modernen Sozial- und Humanwissenschaften liegt implizit die Annahme zugrunde, Menschen seien individuell und damit in gewisser Weise atomistisch zu denken. Folglich fokussieren herkömmliche Kommunikationsmodelle vorwiegend das Verhalten des Einzelnen, dessen Motive, dessen Handlungsrepertoire und dessen Gefühle und Einstellungen. Kommunikation wird somit verstanden als ein Pingpong-Spiel mindestens zweier Personen, in dem eine Partei sendet, die andere zeitverzögert wahrnimmt, interpretiert und dann antwortet, wobei auch, nach Watzlawick, eine „Nicht-Antwort“ als Botschaft zu verstehen sei.
Nennen wir die beiden Kommunizierenden der Einfachheit halber A und B, die zwischen ihnen stattfindende Kommunikation C und C´, dann ließe sich das Grundmuster etablierter Kommunikationsmodelle wie folgt darstellen:
Abb. 1: Grundstruktur herkömmlicher Kommunikationsmodelle
Die Rolle der Kommunikation (C und C´) wird also reduziert auf Wirkungen der beteiligten Individuen, sie ist lediglich Resultat, nicht aber bestimmendes Element. Kommunikation, Interaktion, Austausch aber sind für den Menschen wesentliche konstituierende Eigenschaften. Die Erfahrungen eines Menschen im intersubjektiven Raum bedingen sowohl Selbstbild als auch Einstellungen, etwa das Selbstwirksamkeitsgefühl oder Präferenzen im Verhalten.
„Beides setzt einen Handlungs- und Erfahrungsraum voraus, in dem wir navigieren, handeln und Erfahrungen machen, die wiederum das Selbstbild konfigurieren. Das Vorhandensein eines solchen Erfahrungsraumes nivelliert bereits die ideologische Haltung eines atomisierten oder totalen Individuums. Ein Individuum, so müssen wir diesen Begriff korrigieren, ist eines, das in Beziehung steht.“[2]
Der praktische Ansatz des resonanztheoretischen Modell besteht darin, nicht nur A und B als die Kommunizierenden zu untersuchen, sondern vielmehr das ganze Resonanzfeld, dessen Pole die Kommunizierenden bilden.
Abb. 3: Kommunikation aus resonanztheoretischer Sicht. Das große Feld bildet das Resonanzfeld, das Gegenstand der Datenerfassung ist. In ihm sind die Kommunizierenden A und B mit ihren Motiven, Einstellungen, Gefühlen und Verhaltensdispositionen implizit enthalten.
Resonanz im soziologischen (und psychologischen) Sinne meint hier: Ein Mensch sendet mit eigener Stimme, mit eigener Handlung, mit Wille und Absicht, und der Adressat vernimmt die Botschaft, nimmt sie auf, verwandelt sie, sendet Antwort, die wiederum den Sender erreicht und ihn auch zu verändern vermag. Dieses Wechselspiel an Verhalten erzeugt ein soziales Resonanzfeld, das nunmehr das eigentlich konstituierende Element des weiteren Verhaltens der Beteiligten sein wird.
„Das Entscheidende an dieser Theorie ist ihre Beziehungsorientierung. Sie setzt Resonanzachsen voraus, also Ebenen von Inhalt und Konnotation, auf denen die verwandelnden Botschaften zwischen den Beteiligten hin und her sausen. Diese Resonanzachsen sind das eigentlich konstitutive Element von menschlicher Erfahrung. Weniger das Ich oder das Du sind entscheidend, sondern jenes dritte Element dazwischen, in dem die eigentliche Lebendigkeit durch Austausch und gegenseitige und nur zu einem gewissen Teil selbstgesteuerte Verwandlung des Selbst stattfinden kann.“[3]
Herkömmliche Kommunikationsmodelle sprechen von „Störungen“, ohne dabei zu berücksichtigen, dass eine „störungsfreie“ Kommunikation lediglich eine tote, mehr oder weniger informationsfreie Kommunikation meint. Rosa[4] spricht vom Echo-Charakter von Kommunikationen, wenn das Gegenüber ohne große Begeisterung und damit ohne emotionale Verbindung lediglich ein erwartetes oder erwünschtes Verhalten repliziert. Resonanz aber lebt von der wechselseitigen Beeinflussung von Sender und Adressat, einer Kommunikation, die beide Parteien gleichermaßen verändert und damit in einem dynamischen Miteinander hält. So entsteht Bindung, zum Beispiel zwischen einem Kind und einer Mutter. Was also herkömmlich „Störung“ genannt wird, ist vielmehr Anzeichen dafür, dass zwischen beiden eine lebendige Beziehung besteht. Resonanztheoretisch betrachtet, sind also „Störungen“ lediglich Merkmal einer existierenden Beziehung, also eines Resonanzfeldes.
Silvester 2019/20 im Leipziger Stadtteil Connewitz
Betrachten wir diesen Zusammenhang anhand eines konkreten Beispiels.
In der Silvesternacht 2019/2020 kam es laut Medienberichten, die sich auf Polizeiaussagen stützten, zu Randalen im Leipziger Stadtteil Connewitz. Seitdem werden alle beteiligten Parteien nicht müde, den jeweils anderen die Schuld zuzuschieben. Tatsächlich aber handelt es sich nicht nur um einzelne Beteiligte, die mit ihrem Verhalten „Schlimmes“ angerichtet haben, sondern um ein komplexes Resonanzfeld – in diesem Fall eines, mit dem offensichtlich niemand zufrieden ist. Allein schon die Interaktionen zwischen Polizei, Feiernden und Autonomen, später auch der Medien und ihres Publikums, zeigt an, dass all diese Teil ein und desselben Resonanzfeldes waren, das sie durch ihre wechselseitigen Interaktionen erzeugten. Die Beteiligten stehen also in einer Beziehung zueinander, sind miteinander verbunden.
Was also kann man tun, um ein Resonanzfeld in eine Dynamik zu überführen, die wünschenswert ist? Allein die Schuldfrage deutet auf die Vorstellung von sequenziellen, also veralteten Kommunikationstheorien hin, die die Interpretation der Ereignisse leiten, und zwar von allen Beteiligten. Aus resonanztheoretischer Sicht aber ist die Zuweisung von Schuld ein Impuls, der in das Resonanzfeld gesendet wird, beim Gegenüber also an genau jenem psychischen Punkt andockt, der individuell Schuldgefühle markiert, und so im Gegenüber entweder Reaktanz, also psychische Selbstverteidigung, auslösen wird oder aber, im sehr unwahrscheinlichen Fall, Einsicht in die eigene Schuld, und Reue, Buße oder Sühne erzeugen wird. Letzteres würde ein deutliches psychologisches Ungleichgewicht erzeugen, da es den verursachenden Anteil der anderen Partei von vornherein unsichtbar macht.
Die eigentliche Frage wäre vielmehr diese: Welche Impulse können wir in ein Resonanzfeld senden, um dessen Qualität in eine erwünschte Richtung zu lenken? Das Auftreten der Polizei in Rüstung und Kampfformation ist ein Impuls, der im Gegenüber Angst und in deren Folge Aggressionsbereitschaft auslösen wird. Die Resonanzachse (Rosa), die in diesem Fall aufgespannt wird, ist eine psychische Schwingung von Bedrohung und Gefahr, und die damit psychisch und genetisch assoziierten Reaktionen sind jene von Flucht oder Kampf. Falls es die Hoffnung der Polizeistrategen ist, mit einem solchen Auftreten in der Bevölkerung Gefühle von Ruhe, Sicherheit und Frieden zu erzeugen, ist das resonanztheoretisch schlicht unmöglich. Unsere genetische Ausstattung, die entsprechende neuroendokrinologische Antworten bereitstellt, wird zwangsläufig mit den Reflexen von Verteidigung, Wiederherstellung von Sicherheit und Freiheit, Kampf und damit Aggression Antwort geben. Die entsprechende Resonanzachse mit diesen beiden Polen – kampfbereites Auftreten einerseits und Verteidigungsimpuls andererseits – wird damit verstärkt und bleibt aktiv.
Die Resonanztheorie würde nun ein vollkommen anderes Vorgehen nahelegen:
In einem ersten Schritt wird eine Vorstellung des Wünschenswerten generiert, also eines Resonanzfeldes, mit dem alle Beteiligten zufrieden sein können. In einem zweiten Schritt eruiert man die möglichen Resonanzachsen, die zu einem solchen Resonanzfeld beitragen können. Der dritte Schritt besteht darin, initiale Impulse auszuwählen und aktiv auszusenden, um die entsprechenden Resonanzachsen aufzuspannen.
Resonanz aber ist in seinen Folgen nicht vorhersehbar. Resonanz im sozialpsychologischen Sinne setzt ein gewisses Maß an Erreichbarkeit und dennoch auch Unverfügbarkeit des Gegenübers voraus. Ohne die Erreichbarkeit des Gegenübers würden die initialen Impulse ins Nichts gesendet werden, und es könnte sich demzufolge auch keine Resonanzachse aufspannen. Und doch muss ein gewisses Maß an Unverfügbarkeit der Reaktionen des Gegenübers gewährleistet sein, denn andernfalls entstünde lediglich ein Echo, das die ausgesendeten Informationen eins zu eins zurücksendet und damit keine lebendige dynamische Beziehung erzeugt. Die Unverfügbarkeit des Gegenübers ist dessen Freiheit. Und diese Freiheit bedingt mitunter unerwartete Antworten, bedingt Kreativität und damit auch Problemlösungen. Aus Echobeziehungen resultieren keine Problemlösungen.
Psychologische Komponenten zur Bewertung von Resonanzqualitäten
Positiv empfundene Emotionen sind ein grundsätzliches Kriterium, um die Qualität von Resonanzfeldern zu beurteilen. Menschen empfinden Dissonanzen als unangenehm und entwickeln das Bestreben, diese in konsonante psychische Erfahrungen umzuwandeln. Reine Konsonanz in einer Resonanzbeziehung allerdings wäre wiederum jene vorhersagbare und damit irrelevante Beziehungsqualität, die wir „Echo“ nannten. Resonanzen sind dynamisch und nicht statisch. Die Ordnung der Dinge besteht in ihrer Wandelbarkeit, oder, wie man in der Physik sagt, dem Fließgleichgewicht. Gelingende Resonanzen sind also solche, die von einem wiederholten Überführen von Dissonanzen und Widersprüchen in Konsonanzen, Übereinstimmungen und nachvollziehbarer Sinnhaftigkeit der Ereignisse gekennzeichnet sind.
Kehren wir noch einmal zu den Ereignissen in der Silvesternacht in Leipzig/Connewitz zurück.
Eine sequenzielle Betrachtung dieser Ereignisse erzeugt den Eindruck einer linearen Kausalität, die aber in einem Resonanzsystem nicht gegeben ist. Lineare Kausalität, mit den Sequenzen von Ursachen und Wirkungen, legt es nahe, aus Gründen des psychischen und politischen Selbstschutzes die Schuldfrage zu stellen. Doch wird diese Schuldfrage das Resonanzfeld (mit dem alle Beteiligten unzufrieden sind) nicht zum Besseren verändern können – im Gegenteil werden die entsprechenden dysfunktionalen Resonanzachsen, die das pathologische Feld konstituieren, weiter bedient und damit gestärkt.
Geht man aber von einer Asequenzialität, also einer faktischen Zeitgleichheit der Handlungen beider Seiten, aus, zeigt sich ein ganz anderes Bild. Das Aussenden des Signals von Kampfbereitschaft trägt in sich bereits die Potenz der damit kompatiblen Reaktion. Die Kampfbereitschaft der Polizei also, mit den Signalen von sichtbarer Bewaffnung und ebenso sichtbarem Kampfgerät (Wasserwerfer, Schusswaffen, taktische Mannschaftsaufstellungen etc.) trägt in sich bereits das später in die Wirklichkeit aufgefaltete Resonanzfeld – es ist diesem Auftreten schon inhärent, ähnlich wie einem Samen der spätere Baum, dem Big Bang das spätere Universum oder einer Gensequenz der spätere Phänotyp innewohnt.
Um einen solchen Gedanken aber überhaupt zuzulassen, bedarf eines gewissen Maßes an Vertrauen in die Gestaltbarkeit der Umstände, in die Möglichkeit, eine wünschenswerte Zukunft erzeugen zu können.
Der Verlust der Utopie
Mit diesem letzten Satz ist eines der größten Probleme unserer Zeit angesprochen: Der Verlust des Vertrauens in die Wirkmächtigkeit menschlichen Handelns, das Verschwinden des Visionären, der Utopie.
Und so kommen wir zu dem zweiten oben schon angesprochenen Denkansatz, der Sphärologie des Philosophen Peter Sloterdijk.[5] Hier soll nur die Essenz kurz umrissen und auf Details verzichtet werden.
Während weltliche und kosmische Sphärenmodelle in der Historie als vorgefundene Räume mit bereits fertigem kosmischen Interieur beschrieben wurden, in die der Mensch durch Geburt „geworfen“ würde, kehrt Sloterdijk diesen Gedanken um und beschreibt die Sphären (freilich nur jene, von denen wir wissen können) als Räume, die sich in dem Maße aufspannen, wie wir sie durch Wahrnehmung, Absicht, Handlung und Gestaltung erzeugen.
Die Sphäre zwischen Mutter und Kind etwa entsteht durch die wechselseitige Wahrnehmung, die wechselseitigen Wirkungen aufeinander und die wechselseitigen Interaktionen der beiden. Gäbe es diese nicht, gäbe es auch diese Zweiheits-Blase nicht. Die Sphären – seien es die zwischen zwei Menschen oder von Mensch und Kosmos – erzeugen durch die Interaktionen der Beteiligten in sich Muster und Programme, die wiederum die Eigenart der Sphäre definieren.
Die Ähnlichkeit zur Resonanztheorie Rosas ist augenscheinlich. Beide bedienen sich der Metaphorik des Raumes. Die Vorstellung des Raumes ist aber abhängig von den Möglichkeiten, Räume zu erfahren. Solange man Räume zu Fuß, zu Pferd oder per Auto durchmessen musste, war Raumvorstellung immer abhängig vom Verstreichen eines entsprechenden Zeitraumes. Die absoluten Radien von Räumen mögen gleich geblieben sein (die Entfernung zwischen Berlin und Lissabon ist noch immer die gleiche), aber die Zeit, ihn zu durchqueren, hat sich in den letzen 150 Jahren radikal reduziert, bis sie in heutigen Tagen durch die Digitalisierung von Informationsströmen marginal geworden ist. Die Physik konnte auf die Veränderung unserer Interaktionsfähigkeit im Raum Antwort geben, indem sie den Feld-Begriff einführte, also nicht mehr nur Magneten und Eisenspäne betrachtete, sondern das magnetische Feld, in dem Magneten und Eisenspäne nur noch einbegriffene Teilfunktionen darstellen. Nur haben sich auch die Kommunikationsströme der Menschheit insofern verändert, dass auch hier ein Feld-Begriff nötig wird. Der Feldbegriff ist ein next level des klassischen Raumbegriffs. Sowohl die Resonanztheorie als auch die Sphärologie sind ins Soziologische und Philosophische übertragene Feldtheorien, wie es sie in der Physik schon eine Weile gibt.
Eine weitere – wesentliche – Gemeinsamkeit beider Theorien ist ihr konstruktivistischer Charakter. Sie legen nahe, dass die Räume, also die Felder, gestaltbar sind, ja gar nicht anders als durch aktive Gestaltung entstehen können.
Dieser Befund steht in einem deutlichen Gegensatz zu dem Verlust der Utopie, den wir seit etwa 30 Jahren erfahren. Es ist oft die Rede von den „Gesetzmäßigkeiten des Marktes“, die alternativlos seien. Die Märkte, auch die der globalen Finanzen, sind allerdings menschengemacht, und sie werden tatsächlich auch Tag für Tag gestaltet. Doch folgt diese Gestaltung keiner Vorstellung des Wünschenswerten mehr.
Es ist ein bemerkenswertes Phänomen unserer Tage, statistischen Prognosen blind zu vertrauen. Doch statistische Prognosen beziehen ihre prognostischen Aussagen zwangsläufig aus Daten der Vergangenheit. Wer sich Prognosen anvertraut und in seinem Handeln lediglich ihren Vorgaben folgt, reagiert nur noch, agiert aber nicht mehr. Statt eine Idee einer wünschenswerten Zukunft zu entwickeln und sachlich zielgerichtet daran zu arbeiten, diese in die Wirklichkeit zu bringen, richten sich Wirtschaft, Politik, Gesundheitswesen und Soziologie nahezu ausschließlich nach statistischen Prognosen, nach mathematisch visualisierten Verläufen, errechnet durch Daten, die einer Zeit angehören, die man gern überwinden würde. Das Diktat der statistischen Prognostik verschärft allerdings noch die Verhältnisse, da eine statistische Vorhersage keinen Unwahrscheinlichkeitsfaktor, keine Kreativität, kein Vorstellungsvermögen kennt.
Resonanztheorie und Sphärologie, deren geistige Vorgänger die Systemtheorie, der Konstruktivismus, die rhizomatische Philosophie von Gilles Deleuze und nicht zuletzt die Befunde moderner Neurologie sind, sind in diesem Sinne nicht nur Erklärungsmodelle Sie sind auch eine Einladung, das Vertrauen in die Gestaltungsfähigkeit und die Kreativität des Menschen zu erneuern. Jeden Raum, den wir konstituieren und in dem wir uns bewegen, erzeugen wir durch unsere realen Handlungen, und die Entscheidungen, wie wir handeln, obliegen uns, ob wir wollen oder nicht.
Manchmal, doch leider nicht immer, ist es einfach: Während des legendären Festes „Bunte Republik Neustadt“ in Dresden stand vor vielen Jahren ebenfalls, wie in Connewitz, eine Eskalation zwischen Polizei und Autonomen kurz bevor. Der Autor war damals, noch als Student, Barkeeper in einer der Kneipen, und das Kneipenteam traf eine Entscheidung. Es stellte Cola, Limonaden und Kaffee zusammen, und brachte sie den angespannten und voll gerüsteten Polizisten, die am Ende der Straße standen, drohend wie die trojanische Armee. Man zögerte. Doch dann nickte derjenige, der vermutlich der Hauptmann war, nahm seinen Helm ab und griff zu einem Becher mit Kaffee. Nacheinander nahmen auch die anderen ihre Helme ab, nahmen sich auch Getränke. Der Anblick hatte sich verändert. Da stand keine kampfbereite Phalanx mehr, die Furcht einflößte, sondern Leute, die, ihren Helm unter dem Arm, Kaffeebecher in den Händen hielten. Es blieb an diesem Tag friedlich. Das Resonanzfeld hatte sich verändert.
[1] Vgl. Häcker, Stapf: Dorsch. Psychologisches Wörterbuch. Verlag Hans Huber, Bern, Göttingen, 14. Auflage, 2004, S. 254.
[2] Thiele, M.: Sei! Du! Selbst! Eine Kritik des Radikalen Humanismus. Phänomen, 2019.
[3] Thiele, M.: Sei! Du! Selbst! Eine Kritik des Radikalen Humanismus. Phänomen-Verlag, 2019.
[4] Rosa, H., Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp, 2016.
[5] Sloterdijk, P.: Sphären, 3 Bände, Suhrkamp, 2004.