Der Brexit, das Selbstbestimmungsrecht der Völker, die Globalisierung und die neuen Proleten

 
 

 von Oliver Griebel

Es ist leicht, in der Brexit-Krise das Schmieren-Theater einer planlosen Theresa May, gejagt (und erlegt) von einem durchgeknallten Boris Johnson, gejagt von einem einfach nur schlimmen Nigel Farrage zu sehen. Infotainment will immer fast alles an Personen festmachen: daran, wer was wird, und wer wie tief fällt. Diese Geschichte der schier endlos sich hinquälenden Scheidung einer unglücklichen Ehe erzählt uns aber viel Tieferes über unseren Kontinent heute in Welt.

Wo soll ich anfangen? Am wichtigsten wäre vielleicht, dass wir lernen, dass die Welt nicht untergeht, wenn ein Mitglied einer Wirtschaftgemeinschaft (oder auch ein Teil einer Nation) seiner eigenen Wege geht. Die Angst vor den labilen und launischen Märkten, und die Angst vor Veränderungen in einem etablierten Gefüge von Nationen, sie lasten auf dem Westen wie eine Phobie ... und laden zur Erpressung durch das Kapital ein: Wenn ihr nicht nach unserer Pfeife tanzt, dann investieren wir halt woanders oder gar nicht. Nützlich gegen diese Angststörung und Erpressbarkeit wäre eine Expositionstherapie. Dazu brauchen wir die Erfahrung, dass wir auch Trennungen, Neugruppierungen, New Deals, überfällige Aufbrüche verkraften können ... können müssen! Der Brexit ist ein willkommenes Training unserer Belastbarkeit („Resilienz“), die wir noch für viel größere Auseinanderbrüche und Zusammenbrüche nötig haben werden.

Nebenbei: Auch die Frage der Sezession Schottlands oder Kataloniens gehört hierher. Es gibt kaum Länder, in denen die Ehescheidung noch verboten ist; aber das Selbstbestimmungsrecht der Völker soll der heiligen Stabilität der Staatengemeinschaft geopfert werden. Vor allem Bürger von Völkern, die sich nicht mehr erinnern, wie sie vor langer, langer Zeit nationale Selbstbestimmung erkämpft haben, geben hier großzügig süffisante Ratschläge, man solle so altmodisches Zeug doch einmal sein lassen, im Zeitalter übernationaler Wertegemeinschaften und autonomer Regionen. Das macht die Brexit-Geschichte zu einer Geschichte nicht nur über die Briten und „den Kontinent“, sondern auch über die Engländer, die Iren und die Schotten, und zu einer so wichtigen Lehre und Übung für ganz Europa und den ganzen Westen.

Europa ist nicht die EU. Ich finde es richtig und wichtig, dass es auch Länder der europäischen Mittelstandsnationensphäre gibt, kleine und große, die nicht in dieser Gemeinschaft sind (oder auch die sie verlassen) – damit klar bleibt, es gibt auch funktionierende Nationen außerhalb der Brüsseler Regulationsreichweite. Die Verhältnisse sollten nicht zu uniform werden, und nicht zu bürokratisch „sachgezwängt“, anstatt demokratisch legitimiert. Und es muss klar bleiben, dass Europa eine Wertegemeinschaft ist, eine Zivilisation, nicht nur oder primär eine Wirtschaftsgemeinschaft.

Andersherum sehe ich es als eine der wenigen verbliebenen großen Hoffnungen der Menschheit, dass sich in nicht allzu ferner Zukunft innerhalb der Europäischen Union ein harter Kern von Nationen zusammenfinden könnte, der ernst macht mit dem ökologischen und solidarischen Umbau, um die westliche Zivilisation (wie wir sie kennen) zu retten. Die ganze EU wird das nie gemeinsam packen. Falls solch ein harter Kern sich formieren wird, so sage ich voraus, wird er sich um das Gravitationszentrum Frankreich-Deutschland herum gruppieren. Falls dieser Kern entsteht, wird die Union politisch an Bedeutung verlieren, und Länder außerhalb der EU könnten zu diesem ökologisch-solidarischen Kern dazustoßen, z.B. Norwegen … oder eben auch das Vereinigte Königreich.

Dazu müsste allerdings viel von der Mentalität der Profiteure und Rosinenpicker überwunden werden, die wir von uns selbst, aber noch mehr von den Schweizern oder eben auch den Briten leider kennen. Man denke nur an das zynische Geschäftemachen und Freundebetrügen mit den Virgin Islands, der Isle of Man und anderen Steueroasen.

Das Bewusstsein vom britischen „Exzeptionalismus“, von der eigenen Sonderstellung, die zu wertvoll ist, um sich mit weniger besonderen europäischen Nationen gemein zu machen, dieser spielt auch eine große Rolle bei der Brexit-Sehnsucht. Auch die Allergie gegen Fremdbestimmung durch „die Brüsseler Bürokratie“ spielt natürlich mit hinein.

Die Gemengelage, die in England zu der wachsenden Unzufriedenheit mit der EU und schließlich zu dem Volksentscheid für einen Brexit geführt hat, ist allerdings komplexer. Was nicht nur in Großbritannien immer wichtiger wird, ist der Überdruss gegen eine als zu viel empfundene Immigration, und der damit verbundene Aufstieg der Rechtspopulisten. Nicht nur Immigration von außerhalb der EU übrigens, sondern auch Immigration auf Grund der Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union, gemäß dem Schengen-Abkommen. Bei den Briten gab es seit dem Beitritt zum Schengen-Raum eine massive polnische Zuwanderung, über eine halbe Million. Sinnfällig wurde der große Migrationsdruck auf England auch durch die Camps von Afrikanern nahe Calais in Frankreich, beinahe schon außerhalb des französischen Rechtsstaats in einer Art Dritte-Welt-Exklave, vollgestopft mit Menschen, die egal wie über den Ärmelkanal wollen, und nur dorthin. Es ist verständlich, dass die Briten wieder selbst bestimmen wollen, was für Menschen und wie viele Menschen sie meinen, verkraften zu können.

Was keinen Sinn hat in diesem Kontext, ist nur die Nase zu rümpfen wegen dieser gern schnell als „rechtsradikal“ oder gar „faschistisch“ eingeordneten Abwehr gegenüber Einwanderung außer Kontrolle. Abgehängte Menschen in ländlichen Gebieten oder auch working poor in den Ballungsräumen, die darum kämpfen, die Miete aufzubringen, gerade diese „kleinen Leute“ spüren, dass die ungezügelte Globalisierung ihren Nationen schadet, und besonders ihrer eigenen Teilhabe an ihren Nationen schadet. Billigarbeiter/innen/heere zerstören durch Billigimporte von außen deren Arbeitsplätze und das Wirtschaftsleben bei ihnen vor Ort. Und von innen bröckelt der soziale, kulturelle und demokratische Zusammenhalt durch Parallelgesellschaften von Migranten in einfachen Arbeiten, die unter sich bleiben wollen, fremd bleiben, oft allein schon sprachlich unfähig sind, an dem Volk, in dem sie jetzt leben, als ihrer neuen Nation wirklich teilzunehmen.

Trotzdem kann und wird man viele aufnehmen, einfach nur damit jemand die Arbeit macht, für die man keine Eingesessenen findet, genauer, keine, die diese Jobs für dieses Geld zu machen bereit sind: Jobs wie Paketboten, Pizzaboten, Putzfrauen. Egal was man von solchen Handlangerjobs hält und wie viele Migranten man damit in Beschäftigung bringen kann – man wird so niemals einen größeren Teil der Verfolgten, ganz zu schweigen von den Elenden dieser Erde aufnehmen und integrieren können. Nur in ihren Ländern wird man ihnen helfen können und müssen – sonst werden viel mehr kommen, als westliche Mittelstandsnationen wirtschaftlich und politisch vertragen können.

In ihren Ländern. Deshalb spricht auch der ehemalige französische Filmer, Umweltaktivist und Ex-Minister Nicolas Hulot von einen „ökologischen und solidarischen Umbau“. Solidarität vor Ort mit den armen Ländern, das heißt zum Beispiel, ihren Binnenhandel, ihr Kleingewerbe und ihre Kleinbauern nicht mehr mit unserem Ramsch und Müll, mit unserer Agrarchemie und den Überschüssen unserer Agrarindustrie kaputt zu machen. Von unseren Rüstungs-„Gütern“ mal ganz zu schweigen. Stattdessen müssten wir den ärmeren Ländern die Hilfe leisten, die sie brauchen, um ihre eigenen Erzeugnisse und Produktionsweisen ihrer sozialen Struktur, ihrer Kultur, ihrer Geografie und dem Klimawandel anzupassen, mit modernster nachhaltiger Lowtech und massiver Hilfe zum Beispiel bei der Bildung.

Natürlich sind die britischen Brexiteers himmelweit davon entfernt, das miteinander zu verbinden, was beim Schutz ihrer genau wie unserer Mittelschichtdemokratie zusammengehört: der Kampf gegen eine Dumping-Globalisierung und der Kampf für globale Solidarität. Populisten wollen nur für ihre eigene Schicht und Region die Rosinen herauspicken. Und an dieser Mentalität sind nicht etwa Farrage und Johnson schuld. Populisten sind nicht nur Volksverführer, sind werden auch vom populus oder plebs, „vom Volk“ getrieben. Was für einem Volk? Seit den 80er Jahren habe ich das Gefühl, dass sich eine neue Art von (vorwiegend) Mittelschicht formiert, nicht nur in England, aber dort ganz besonders offen. Man könnte von den „neuen Proleten“ sprechen. Der Ausdruck „Prolet“ soll andeuten, dass es sich nicht vorwiegend um Elends-Proletarier ausgeschlossen von Wohlstand, Sozialfürsorge und Bildung handelt, sondern um eine Mittelschicht, die in Sachen Selbstbild, Lebensstil und politische Haltung wichtige bürgerliche Manieren, Tabus und Tugenden abgelegt hat.

Deutlich wird das gerade an ihren Anführern ... nennen wir sie „Proleten-Tribunen“. Das Verstörende ist, dass es sich oft um rüpelhafte und ichbezogene und prinzipienlose Upperclass-Sprösslinge handelt – die LePen und Berlusconi und Trump, und jetzt ein bisschen auch Johnson. Sie wirken – oft auch optisch – wie alte verwöhnte enfants terribles. Aber dass der Prolet selbst, als kleiner Mann, der er ist, diese egomanischen Mitglieder der Oberschicht wählt, ist vielleicht doch nicht so schwer zu begreifen. Ein Prolet ist eben kein klassenbewusster, solidarischer Proletarier, wie Marx ihn sich gewünscht hätte; ein Prolet ist oft ein verhinderter Neureicher, der sich am liebsten bedienen und für sich arbeiten ließe, der selbst gern lustvoll herumkommandierte und lästige bürgerlich-zivile Regeln bräche. Man erkennt das an seinem Verhalten im Urlaub, an den Filmhelden und Plots, die er gut findet, ja und auch am Niedergang von PS, SPD und Labour. Wenn sich diese Art von Mentalität durchsetzt, dann wird das weder die Dumping-Globalisierung beenden, noch die globale Solidarität weiterbringen.

Und wie geht es weiter? Ich denke, der Brexit wird kommen. Aber was wird er bedeuten für Großbritannien? Abzusehen ist jedenfalls, dass die Labour Party weiter schrumpfen wird, keine Mehrheit links von den Tories und DUP und Nigel Farrage anführen können wird. Das Mehrheitswahlrecht lastet wie ein Fluch auf England, wie auch den USA und Frankreich. Wir Deutschen hatten unverschämtes Glück mit unserem Grundgesetz, nicht zuletzt mit dem Verhältniswahlrecht. Wir müssen Koalitionen der Mitte bilden, und hier kommt man im Bund an den Grünen nicht mehr vorbei. Auch an der Union nicht, und deshalb wird sich die alt-bürgerliche Wählerschaft der Union den Zeichen der Zeit stellen müssen, zumal wenn sie in einer schwarz-grünen Koaltion den Kanzler stellt. Der AfD nachlaufen oder mit ihr koalieren kommt nicht in Frage, das wissen sie. Im Vereinigten Königreich liegen die Dinge eben auch wegen dem Mehrheitswahlrecht anders.

Was genau passieren wird ist ungewiss. Das Wahrscheinlichste, eine Tories-Mehrheit im Unterhaus, gewählt von einer stärksten Minderheit der Wähler, würde einen Schrecken von einer gespaltenen Nation bedeuten, deren Regierung meint, sich gegen vitale Interessen nicht der EU, sondern ganz Europas, des ganzen Westens abschotten zu können, und die wahrscheinlich unbekömmliche Trump-Rezepte ausprobiert. Aber die Briten und wir alle müssen durch diese Lernprozesse durch. Es ist zu hoffen, dass die vernünftig-unideologische Mittelschicht-Mitte, für die England als Teil des eher nordischen Europa eigentlich steht, nicht zerbröselt oder gar in eine Polarisierung zwischen Rechts- und Linkspopulisten zerbricht. Aber genau das kann den Briten und uns allen blühen.