Zur performatistischen Wende in der Kultur
von Raoul Eshelman
Wir leben unbestreitbar in einer Zeit des kritischen Skeptizismus, in der Glaube meist nur noch als Zitat am Rand der Kultur eine Rolle spielt – beispielsweise bei gelegentlichen biblischen oder religiösen Anspielungen in ansonsten weltlichen Filmen, Gemälden oder Büchern. Die eindeutig säkularisierte Ausrichtung unserer Gesellschaft hat scheinbar endgültig dafür gesorgt, dass das Erlebnis des Glaubens aus unserem kulturellen Erfahrungsbereich verschwunden ist. Die vorliegende Abhandlung allerdings erhebt den Anspruch zu zeigen, dass gerade das Gegenteil der Fall ist: Wir erleben in den letzten 15-20 Jahren – so die tragende These – nichts Geringeres als die Rückkehr des Glaubens als bestimmende Kraft in unserer ansonsten so säkular geprägten Kultur. Dies bedeutet allerdings weder eine Hinwendung zur Mystik noch die Wiederkehr institutionalisierter Religionslehren. Vielmehr äußert sich der Glaube – verstanden als beharrliches Vertrauen in ein höheres Prinzip oder aber in andere Menschen – in der Konstruktionsweise unzähliger Romane, Filme, Bücher, Kunstwerke und architektonischer Bauwerke. Es geht also nicht so sehr um Sinn oder um einen näher bestimmbaren geistigen Gehalt, sondern vielmehr darum, dass wir verschiedene Formen des Glaubens durch Kunst, Architektur, Film und Literatur unterschwellig – also durch die Form hindurch – erfahren. Meine These ist, dass in Werken der Kultur die Techniken des Glaubens erneut auf uns einwirken, ohne dass wir uns dessen immer bewusst sind.
Das vorliegende Buch ist das Ergebnis einer über 15 Jahre langen Forschungstätigkeit, die unter anderem eine Monografie (Performatism, or the End of Postmodernism, 2008) und mehr als 25 Aufsätze hervorgebracht hat. Das Buch selbst ist jedoch an ein allgemeines Publikum gerichtet und nicht an Fachkollegen oder andere Wissenschaftler. Auf Fachjargon habe ich daher weitgehend verzichtet und technische Termini erläutert, wo sich deren Gebrauch nicht vermeiden ließ. Auch wurden bestimmte Argumentationslinien vereinfacht, um nicht allzu sehr in verwickelte Fachdiskussionen abzugleiten. Die Beispiele beziehen sich in der Regel auf bereits veröffentlichte Analysen, die teils in Fachzeitschriften, teils aber auch im Internet zugänglich sind (eine Übersicht findet sich auf meiner Website www.performatism.de). Wer die eigenen Kenntnisse vertiefen will oder sich für bestimmte Einzelaspekte interessiert, sei auf den Anhang dieses Buches verwiesen, in dem die wissenschaftlichen Hintergründe kurz erläutert und weiterführende Hinweise gegeben werden.
Über meine eigene Person wäre zu sagen, dass ich ein amerikanischer Slavist bin, der schon lange in Deutschland lebt und arbeitet – es sind inzwischen mehr als 37 Jahre. Diese Mischung aus amerikanischer Herkunft, deutscher Fachausbildung und wissenschaftlicher Beschäftigung mit russischer, tschechischer und polnischer Kultur hat zu einem nachhaltigen Interesse an allgemeineren Problemen der kulturgeschichtlichen Entwicklung geführt, das mich letzten Endes weit über die Grenzen meines eigenen Faches hinausgeführt hat. Im vorliegenden Buch habe ich allerdings deutschen und angelsächsischen Beispielen aus Literatur, Film, Kunst und Architektur den Vorzug gegeben und auf eher unzugängliche slawische Beispiele, die mir ansonsten lieb wären, verzichtet.
Auf das Thema des Glaubens bin ich erst langsam gekommen. Gegen Ende der 90er Jahre wurde mir (und vielen anderen Beobachtern) klar, dass sich die ironischen und spielerischen Strategien der sogenannten Postmoderne erschöpft hatten. Die Frage war nun, wie eine mögliche „Postpostmoderne“ aussehen könnte (für die unschöne Wortbildung „Postpost-“ gab es damals keine Alternativvorschläge). Wie viele andere auch hatte ich nach den künstlichen Spielereien und nach der gnadenlosen Erkenntniskritik der Postmoderne mit der Rückkehr zu einer Art Realismus oder Humanismus gerechnet. Weder das eine noch das andere war in meinem Fachgebiet allerdings eingetreten. So war beispielsweise die bei Weitem populärste Gestalt der russischen Literatur der 90er Jahre Viktor Pelevin, dessen Werke den Leser durch hinterhältige erzähltechnische Kniffe dazu brachten, das eigene Ich im Sinne des Buddhismus aufzulösen – ein nicht unbedingt hehres humanistisches Anliegen. In der polnischen Literatur stieß ich auf das Werk des Publikumslieblings Olga Tokarczuk, deren bekannteste Erzählung der frühen 90er Jahre („Der Schrank“) von einem Paar handelt, das sich in einem alten Kleiderschrank einschließt, der sämtliche Unterschiede zwischen Mann und Frau in eine unerklärliche Ureinheit überführt – auch dies nicht besonders realistisch. Zum Schlüsselerlebnis wurde schließlich der Film American Beauty aus dem Jahr 1999, der mit einer nicht weiter hinterfragbaren, quasi-buddhistischen Botschaft endet. Damit war die neue Tendenz ganz offensichtlich auch im amerikanischen Mainstream-Kino angekommen. Nach diesen und ähnlichen Lektüren bzw. Kinoerlebnissen, die sich mit den zu dieser Zeit geläufigen literatur- bzw. filmwissenschaftlichen Mitteln nur schlecht erklären ließen, begann ich nach einer theoretischen Alternative zu suchen. Diese fand ich bald in der sogenannten Generativen Anthropologie des amerikanischen Kulturtheoretikers Eric Gans. Gans knüpft an eine Argumentationslinie an, die von den französischen Soziologen Emile Durkheim und Marcel Mauss ausging und in jüngster Zeit vom amerikanischen Soziologen Erving Goffman und vom französischen Kulturwissenschaftler René Girard fortgesetzt wurde. Dieser Denkweise zufolge haben viele gesellschaftliche Verhaltensweisen eine ursprünglich sakrale Funktion und umgekehrt: Sakrale Funktionen spielen immer noch eine zentrale, wenngleich nicht immer sichtbare Rolle im weltlichen Treiben unserer Gesellschaft. Von Gans ausgehend habe ich daher drei Momente herausgestellt, die für die Kulturentwicklung der letzten zwanzig Jahre bestimmend sind: (1) Einheitsdenken (Monismus), (2) performativ bzw. ästhetisch vermittelter Glaube (im Unterschied zum religiösen Dogma) und (3) die Rückkehr des Schönen.
Mein Buch versucht aufzuzeigen, wie mit diesen Momenten ein gewisser Grundoptimismus in unser Kulturleben zurückkehrt, der uns Schönheit (unter bestimmten Bedingungen) wieder erfahrbar macht und eine neue, aktive Art des ethischen Handelns ermöglicht. Allerdings ist Vorsicht geboten, daraus allzu weitreichende Schlussfolgerungen zu ziehen. Glaube kann bekanntlich Berge versetzen, aber auch missbraucht werden. Zudem ist das, was sich im Bereich der Kultur abspielt, nicht immer ein verlässliches Spiegelbild gesamtgesellschaftlicher Zustände. Hier können ohnehin nur gewisse Tendenzen aufgezeigt werden – doch noch ist es zu früh, eine umfassende Interpretation der laufenden Entwicklung abzugeben.
Der Leser sollte nach der Lektüre dieses kleinen Buches in der Lage sein, nicht nur aktuelle Kulturerscheinungen besser zu verstehen, sondern deren Eigenschaften gewissermaßen auch vorherzusagen. Denn wer einen neu in die Kinos gekommenen Film anschaut, ein neues Gebäude besichtigt oder ein gerade erst erschienenes Buch liest, wird in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle auf Merkmale treffen, die hier als stilbildend für die neue Epoche dargestellt werden. Insofern liefert mein Buch weniger einen umfassenden Überblick über das jetzige Kulturgeschehen, als vielmehr einen Anreiz für Leser, die hier aufgeführten Kriterien in der Literatur, im Film und in der Architektur der Gegenwart selbst zu entdecken.
Die Rückkehr des Glaubens
von Raoul Eshelman
Kapitel 1: Von der Postmoderne zum Performatismus
Das vorliegende Buch versucht, die epochalen Veränderungen zu beschreiben, die sich in der westlichen Kultur während der letzten zwanzig Jahre zugetragen haben. Es geht dabei um die Abkehr von einer radikal ironischen und erkenntniskritischen „postmodernen“ Befindlichkeit hin zu einer neuen kulturellen Haltung, die uns förmlich zum Glauben zwingt. Diese neue, kulturell vermittelte Befähigung zum Glauben darf allerdings nicht als eine religiöse Wende missverstanden werden. Unsere Kultur ist – mit sehr wenigen Ausnahmen – eine säkulare und dies wird sich in absehbarer Zeit auch nicht wesentlich verändern. Die neue Einstellung hin auf den Glauben ist daher in erster Linie ästhetisch erfahr- und erklärbar, das heißt mittels einer Auseinandersetzung mit Literatur, Film, Architektur und bildender Kunst. Diese ästhetisch vermittelte, kulturübergreifende Glaubenserfahrung nenne ich Performatismus. Wie sie zustande kommt und wirkt, und warum sie so heißt, möchte ich auf den folgenden Seiten darstellen.
Am besten lässt sich mit einem kurzen Rückblick auf die Kulturentwicklung während der letzten 50 Jahre beginnen. Seit Anfang der 60er Jahre herrscht in der westlichen Kultur – und nicht nur dort – eine ironisierende und radikal erkenntniskritische Haltung, die man landläufig Postmoderne nennt. Selbst in Deutschland, wo man der Postmoderne gegenüber stets skeptisch blieb, lässt sich diese kulturelle Dominante gut beobachten. Filme wie Paris, Texas (Wim Wenders, 1984), Romane wie Patrick Süßkinds Parfum (1985) oder Christian Krachts Faserland (1995), fotografische Serien wie die Fördertürme von Bernd und Hilla Becher (70er Jahre) oder Gebäude wie die Staatsgalerie Museum in Stuttgart (James Stirling, 1984) – um nur einige Beispiele herauszugreifen – verkörpern alle in der einen oder anderen Weise Schlüsselelemente der Postmoderne.
Doch was ist eigentlich die Postmoderne? Wie alle breit angelegten epochalen Kulturentwicklungen (Barock, Romantik, Realismus usw.) lässt auch sie sich nicht völlig einheitlich oder abschließend bestimmen. Für unsere Zwecke begreift man sie am besten als Skepsis gegenüber den realen oder vermeintlichen Fehlleistungen der Moderne, also der europäischen und anglo-amerikanischen Kulturentwicklung zwischen etwa 1910 und Mitte der 40er Jahre. Wesentlich dabei sind das katastrophale Erbe des Totalitarismus sowie die von der modernen Technik ermöglichte Massenvernichtung während des Zweiten Weltkriegs. So mündete das utopische Streben der künstlerischen Moderne in politischen Totalitarismus, so wurde die authentische Erfahrung des Einzelnen angesichts des Massensterbens im Konzentrationslager und Gulag entwertet, so gipfelten Innovationsdrang und technischer Fortschritt in die Atompilze von Hiroshima und Nagasaki. Die Gegenreaktion, die man Postmoderne nennt, ergibt sich dabei weniger aus bewusst entworfenen programmatischen Überlegungen – denn auch diese waren eine Spezialität der avantgardistischen Moderne – als vielmehr aus dem diffusen Bestreben, die katastrophalen Fehler der Moderne nie wieder aufkommen zu lassen. Davon ausgehend wandte man sich vom Utopismus und von klar markierten ideologischen Positionen ab, man verwarf die Suche nach authentischer individueller Erfahrung als illusorischen Selbstbetrug und weigert sich, eigene Werke als völlig neu – und damit als Fortsetzung des modernistischen Innovationsstrebens – zu deklarieren. Stillschweigend machte man beim Projekt der Moderne, das auf Utopismus, Fortschrittsglauben, Innovationsfreude und authentischer Erfahrung fußte, einfach nicht mehr mit.
Doch was ergab sich aus dieser Verweigerungshaltung? Die Kritiker der Postmoderne sehen darin eine Art Rückkehr des Nihilismus oder einen Verzicht auf ethische Verantwortung schlechthin – daher die häufig formulierte Kritik, die Postmoderne sei „sinnentleert“, „unmoralisch“, „beliebig“ oder „Verrat an der Aufklärung“. In Wirklichkeit trifft keiner dieser (in Deutschland häufig geäußerten) Kritikpunkte wirklich zu. Stattdessen haben die Postmodernisten – die von ihrer Postmodernität zunächst natürlich nichts wussten – Strategien entwickelt, die eine Wiederholung der modernen Katastrophen verhindern sollten. Diese Strategien, die in den verschiedensten Medien, Gattungen und kulturellen Zusammenhängen entstehen, hinterlassen beim ersten Betrachten einen sehr uneinheitlichen und unübersichtlichen Eindruck. Dennoch lassen sich trotz dieser Vielfalt der Erscheinungsformen gewisse wiederkehrende Muster erkennen, die dazu berechtigen, von einer zusammenhängenden Richtung oder Entwicklung zu sprechen.
Wie sehen nun diese Strategien konkret aus? Beinahe durchgehend findet man eine grundsätzlich desillusionierende Haltung, die authentisches innerliches Erleben, die Aufdeckung eines tieferen, verborgenen Sinnes oder die schlagartige Synthese des Neuen aus dem Alten unterwandern, ad absurdum führen oder prinzipiell unmöglich machen. Ein „klassisches“ Beispiel hierfür ist Donald Barthelmes Kurzgeschichte „Der Ballon“ („The Balloon“, 1968). Dort beschreibt der Protagonist in aller Ausführlichkeit, wie er einen riesigen Ballon über Manhattan hochsteigen lässt. Der wundersame Ballon, der 45 Straßenzüge bedeckt und auf dem man stellenweise spazieren gehen kann, erzeugt verschiedene „Meinungen“, „Reaktionen“ und „Komplexe von Haltungen“, aber keinen greifbaren Sinn. Erst am Ende der Erzählung wird der „Sinn“ des Ballons in ein paar Sätzen enthüllt. Der Erzähler gesteht seiner Freundin, die gerade aus Norwegen zurückgekehrt ist, dass der Ballon eine „autobiografische Eröffnung“ sei, die er habe aufsteigen lassen, weil er „Unbehagen“ bei der Abwesenheit der Freundin sowie „sexuelle Mangelerscheinungen“ verspürt habe. Der „sinnlose“ Ballon erweist sich als eine bewusst lancierte, selbsttherapeutische Falschheit und das „sinnvolle“ Geständnis des Erzählers zwingt uns, immer wieder an dieser Falschheit teilzunehmen. Weder Erzähler noch Leser können sich diesem Kreislauf entziehen. Wer nach dem Autor sucht, der Klarheit schafft oder einen rettenden Ausweg bietet, sucht vergebens, denn der Autor ist von vornherein zum einen die Quelle der endlosen Kreisbewegung und zum anderen ebenso darin gefangen wie Erzähler und Leser.
Anhand dieses endlosen Kreislaufs des Erzählens lassen sich die oben erwähnten Grundstrategien der Postmoderne gut erkennen: Der postmoderne Mensch zeichnet sich nicht mehr durch eine authentische Tiefendimension aus, sondern durch die Fähigkeit, seine eher banale Innerlichkeit durch die Setzung falscher Zeichen in der Öffentlichkeit zu verbreiten. Der Mensch bauscht sich dadurch an der Oberfläche eine Zeit lang selbst auf und wird nicht mehr direkt greifbar, verliert dabei somit an Tiefgang und Substanz. Gleichzeitig wird dieser postmoderne Mensch, sofern er sich als Erzähler betätigt, durch eine grundsätzliche, nicht mehr aufzuhebende Ironie bestimmt. Er macht zwar selbst ehrlicherweise auf die eigene, spielerisch inszenierte Falschheit aufmerksam, bleibt aber immer auf diese angewiesen, um seinem Trieb- und Innenleben Abhilfe zu verschaffen. Trotz eines maximalen Grades an authentischem Selbstwissen kann er nur immer wieder den Zyklus von spielerischer Verstellung und kritischer Selbstentlarvung durchlaufen, und zwar ohne Aussicht auf eine „echte“, befreiende Überwindung der vorliegenden Umstände. Dies leitet auch den viel zitierten „Tod des Autors“ ein. Zwar stirbt der Autor natürlich nicht buchstäblich, aber er ist als autoritative Quelle grundsätzlich außer Gefecht gesetzt – er bietet keinen Ausweg aus dem erkenntnistheoretischen Teufelskreis, den er selbst so gnadenlos gezeichnet hat.
Der postmoderne Mensch, wie er etwa in „Der Ballon“ zum Ausdruck kommt, ist in hohem Maße ambivalent. Er hat zwar keine Illusionen mehr (er kann die eigene Lage bestens beschreiben) und er kann frei simulieren und spielen (den Ballon erfinden), aber er kann nicht über sich selbst hinauswachsen. Es gibt nichts Echtes, auf das er zurückgreifen könnte und es gibt kein utopisches Ufer, an das er sich retten könnte. Wer sich als Moderne-Nostalgiker mit dieser Lage nicht anfreunden kann, muss jedoch angeben, was genau das „Echte“ ist, das wir anstreben sollten, und er muss angeben, welcher ideale Fixstern uns den Weg zeigen würde, um dieser misslichen Situation zu entkommen. Genau deshalb, weil all diese authentischen und utopischen Lösungen in der Moderne bereits durchgespielt worden sind – und zwar mit bedenklichen bis katastrophalen Folgen –, ist es schwierig, die erkenntniskritischen Strategien der Postmoderne ganz ohne weiteres aus den Angeln zu heben. Auch deshalb konnte sich die Postmoderne bei aller gelebten Ambivalenz so lange und so nachhaltig durchsetzen. Was übrig bleibt (neben einer gewissen Melancholie) ist die Erkenntnis, dass wir kritisch und spielerisch mit der Misere umgehen können, in der wir stecken, und dass der Versuch, diese Misere mit den Mitteln der klassischen Moderne zu überwinden, nur zu noch größerem Unheil führen würde. Denn: wer die Moderne in aller Konsequenz noch einmal durchspielen will, ist dazu verurteilt, dies im Guten und im Schlechten zu tun. Wer Mensch und Gesellschaft im Sinne eines utopischen Ideals radikal umkrempeln will, wird sich auch auf den totalitären Missbrauch dieses Ideals einlassen müssen.
Abb. 1
Die Postmoderne hat neben der erzählerischen auch eine visuelle Dimension. Diese ließe sich anhand unzähliger Beispiele vorführen, von den berühmten Suppendosen des Andy Warhol bis hin zu den Video-Installationen eines Nam June Paik. Dennoch lassen sich einige Kernmerkmale der Epoche an einem bekannten deutschen Beispiel aufzeigen, und zwar an Bernd und Hilla Bechers Fotografien von deutschen Industriebauten (Abb. 1). Die Bechers machten serielle Aufnahmen von Funktionsbauten verschiedener Art (Fördertürme, Zeche, Gasbehälter usw.), und zwar an bewölkten Tagen aus der fast durchgehend gleichen Bodenperspektive, sodass keine naturgegebene Schönheit aufkommen konnte. Die Bauten wirken stets flach und trist. Aus der seriellen Präsentationsweise ergibt sich ein kurioser Umkehreffekt: In Serie wirken die rein funktional angelegten Bauvariationen wie künstlerische Zierde, die (häufig nicht mehr benutzten) Bauten werden zur ornamentalen Kunst, ohne dabei wirkliche Schönheit auszustrahlen. Diese Methode findet eine weitere Zuspitzung im Werk des Becher-Schülers Thomas Ruff, der Menschengesichter auf ähnliche Art und Weise wie die Bechers aufnimmt (Abb. 2). Die ausdruckslosen Gesichter seiner Fotos, die alle frontal mit gleichmäßiger Beleuchtung vor einem neutralen Hintergrund aufgenommen werden, kehren die Erwartung einer psychologischen Einsicht in das porträtierte Subjekt ins Gegenteil um. Das menschliche Gesicht erweist sich als etwas Gegenständliches, beinahe Lebloses, das uns zudem direkt anstarrt und die Beziehung zwischen Beobachter und Beobachtetem auf den Kopf stellt. Postmodern an all diesen Bildern ist nicht nur deren Ausschaltung der Naturschönheit (der „Echtheit“ oder der natürlichen Sinnlichkeit der Dinge), sondern der grundsätzlich ironische Umgang mit dem Quellenmaterial. Durch die serielle Neuordnung des Kontextes werden aus hässlichen Funktionsbauten quasi-ästhetische Objekte, aus menschlichen Gesichtern
Abb.2
werden flache, vergegenständlichte Bilder, die uns affektlos anblicken. Diese Ironisierung gilt nicht minder für den Akt des Fotografierens selbst: In beiden Fällen wurden Einstellungen gewählt, die mechanistisch wiederholbar und dementsprechend alles andere als künstlerisch oder ästhetisch wirken. Anstelle der modernistischen Aufgabe, die materielle Sinnlichkeit der Dinge und der Menschen mit technischem Geschick freizulegen, findet man lediglich eine Nostalgie für diese Wertigkeiten, die inzwischen nur noch als grau oder blass gewordene Oberflächenerscheinungen zu konsumieren sind.
Abb. 3
Die Postmoderne zeigt sich auch deutlich in der zeitgenössischen Architektur. In Deutschland ist das berühmteste und wohl beste Beispiel die Neue Staatsgalerie Stuttgart (entworfen vom englischen Architekten James Stirling), die 1984 in Betrieb genommen wurde (Abb. 3). Hier findet man das für die Postmoderne typische architektonische Stilgemisch. Stirling zitiert mit seinem Bau alle möglichen Stilrichtungen von der Athener Akropolis über den modernistischen Funktionalismus bis hin zu bunten Querverweisen auf postmoderne Musterbauten wie das Centre Pompidou in Paris. Diese Stilzitate stehen nicht länger in einem ideologischen oder dialektisch-dynamischen – also kämpferischen – Verhältnis zueinander, sondern in einer Beziehung, die sich am besten als gegenseitige Ironisierung beschreiben lässt. Die einzelnen Zitate erheben zwar noch einen ideologischen Anspruch (beispielsweise auf die Realisierung von Klassizismus, Funktionalismus oder Monumentalismus), die schiere Menge der Zitate lässt aber keine der genannten Stilrichtungen mehr dominieren. Die radikale Pluralität dieser Stilrichtungen verweist einerseits spielerisch auf den ideologischen Charakter von Architektur, lässt aber andererseits die jeweils einzelnen Stile samt ihren ideologischen Ansprüchen ins Leere laufen. Auch diese Indifferenzhaltung gegenüber konkurrierenden Positionen ist typisch postmodern: Eine übergeordnete Perspektive, die diese Positionen miteinander versöhnen oder gar in eine Totalität überführen würde, wird bewusst nicht angestrebt. Die auktoriale, also die den Autor betreffende Position unterliegt einem endlosen, ironischen Regress, aus dem sich nicht erschließen lässt, an welchem Punkt sie sich eigentlich befindet oder welche Haltung sie zu den einzelnen Stilrichtungen eigentlich einnimmt. Dabei bleiben die verschiedenen Stilrichtungen zwar noch erhalten, aber rein nostalgisch, als verblasste, nachträglich gesetzte Hinweise auf etwas Vergangenes, und nicht als lebendige Alternative.
Rechnet man die ironisierenden Verfahren aus Barthelmes Erzählung und aus den Becher- und Ruff-Bildern hoch und berücksichtigt dabei die verspielten, eklektizistischen Formen der Stuttgarter Staatsgalerie, ergibt sich ein einigermaßen verlässliches Bild der Postmoderne im Kleinen. Insgesamt ist die Postmoderne weitgehend auf das Spiel mit nachträglich gesetzten, von anderen Quellen abgeleiteten Zeichen ausgerichtet – man bekommt so gut wie nie die Illusion geliefert, man habe es mit der direkten Erfahrung von irgendetwas zu tun. Postmoderne Kunst und postmoderne Prosa sind stark konzeptualisierend und machen dies per Selbstverweis auch deutlich spürbar. Dabei erscheint der Mensch in der Postmoderne stark verflacht und fremdbestimmt. Wichtig ist nicht mehr eine innere, authentische Tiefendimension, sondern der äußere, unendlich variable Kontext, der geradlinige Absichten auflaufen oder aber ins Leere laufen lässt. Der desillusionierende Gestus der Postmoderne lehrt, dass wir uns dieser kontextbedingten Zufälligkeiten zumindest bewusst werden müssen, auch wenn wir sie nicht wesentlich ändern können. Grandios angelegte Neuigkeiten und Erneuerungen gibt es nicht mehr, dafür aber ironische Verschiebungen, die einen unkritischen Umgang mit den Dingen verhindern. Typisch ist die Versetzung von bereits Bekanntem in einen anderen Zusammenhang, der dessen Inhalt ironisch in eine nicht ursprünglich vorgesehene Richtung verschiebt (so werden die Becherschen Fördertürme erst in der seriellen Reproduktion zu Kunst, so wirkt die antike Ornamentation an der Neuen Staatsgalerie in einem Mischzusammenhang nicht mehr ernsthaft klassizistisch, so wird die Lüge über den Ballon letzten Endes zur Wahrheit). Diese Verschiebungen hängen ursächlich mit dem berühmt-berüchtigten „Ende der Geschichte“ zusammen: Wenn alles nur eine ironische, leicht versetzte Wiederholung von etwas bereits Bekanntem ist, dann geht die „große“ Geschichte – verstanden als ein radikaler, etappenmäßiger Bruch mit dem bereits Gewesenen – ebenfalls zu Ende. Dabei gibt es zwar noch jede Menge Restwerte, denn die Postmoderne ist kein Nihilismus, diese lassen sich aber nur noch nachträglich im Sinne der Nostalgie genießen – als verblasste Überbleibsel einer nicht mehr unmittelbar zu erlebenden Realität.
Schließlich bietet die Postmoderne als Kompensation für diese überaus nüchterne Einstellung zur Wirklichkeit reichhaltige Möglichkeiten der Simulation bzw. der endlosen Vervielfältigung von Simulakren – Zeichen, die auf andere Zeichen und nicht mehr direkt auf die Dingwelt hinweisen. Um den bekannten Spruch von Theodor W. Adorno auf den Kopf zu stellen, gibt es in der Postmoderne ein richtiges Leben im falschen. Mit dem Falschen muss man sich in der Postmoderne grundsätzlich arrangieren, weil sich das wenig übrig gebliebene Wahre ohne die Mitwirkung des Falschen nicht mehr erleben lässt – sie bedingen einander gegenseitig; die Erzählung „Der Ballon“ führt dieses Prinzip eindrucksvoll vor. Insgesamt pendelt die Postmoderne somit zwischen erkenntniskritischer Desillusionierung und spielfreudiger Simulation, zwischen postideologischer Passivität (bedingt durch den Verzicht auf große ideologische Visionen) und der hyperkritischen, ironischen Unterwanderung der „großen Erzählungen“ des Abendlandes.
Diese Merkmale der Postmodernität treten natürlich in verschiedenen Graden der Radikalität und Intensität auf, und sie lassen sich durch eine Reihe von Zusatzkriterien ergänzen – ich denke hier beispielsweise an gender-, medien- und ethik-bezogene Fragestellungen, die im Rahmen dieses kurzen Beitrags nicht vertiefend angesprochen werden können. Im Zeitraum zwischen etwa 1960 und Mitte der 90er Jahre begegnet man auch noch etlichen „nicht-mit-mir“-Haltungen und Überbleibseln modernistischer Kunst- und Erzählpraktiken. Wer aber die markantesten Kulturerscheinungen sowie die Gesamttendenz dieser Zeit zu bestimmen versucht, wird nicht umhin kommen, die Dominanz der oben genannten postmodernen Merkmale bei der Gestaltung von Kunstwerken, Literatur, Film, Architektur usw. anzuerkennen. Die schiere Vielfalt dieser Werke – die berüchtigte „Unübersichtlichkeit“ der Postmoderne – darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie bestimmte Grundhaltungen teilen, die nicht nur anders sind als jene der Moderne, sondern moderne Praktiken und Haltungen zitierend aufgreifen und gezielt ins Gegenteil verkehren. Die Postmoderne ist nicht die radikale Erweiterung der Moderne, wie es in Deutschland von Wolfgang Welsch und seinen Anhängern behauptet wird, sondern deren erkenntniskritisches Gegengift, das dafür sorgen will, dass sich die gewaltigen Fehlleistungen der Moderne nie mehr wiederholen.
Die Postmoderne hatte immer ihre Widersacher, aber diese vertraten meist sattsam bekannte Positionen (Marxismus, Hermeneutik, Strukturalismus, Realismus usw.), die keine kulturell lebendige oder konsensfähige Alternative zu bieten hatten. Erst Mitte der 90er Jahren beginnen sich Gegenpositionen herauszubilden, die nicht nur Kritik, sondern vor allem auch ästhetisch anziehende Erzähl- oder Stilstrategien aufbieten. Diese spürbar nicht-mehr-postmodernen Werke arbeiten zwar noch mit bestimmten Praktiken der Postmoderne, drehen diese aber in eine Richtung, die für die „klassische“ Postmoderne mit ihren Desillusionierungs- und Ironisierungsstrategien nicht annehmbar wäre. Der unausgesprochene Schwerpunkt dieses Richtungsschwenks gegen die Postmoderne ist eine Ästhetik, die Zuschauer oder Leser – ob sie dies wollen oder nicht – mit formalen Mitteln in eine glaubende Haltung versetzt. Dies ist das glatte Gegenteil dessen, was die Postmoderne mit ihren ironischen Spielereien, mit ihrer Überproduktion von falschen Zeichen und mit ihren subversiven Kontextverschiebungen anstrebt.
Wie funktioniert diese ästhetisch erzwungene Glaubenshaltung? Man kann einen guten Eindruck davon gewinnen, indem man drei direkte Vergleiche neben jene Beispiele stellt, die zuvor angeführt wurden. Das erste Gegenstück ist das Kapitel „Lächeln“ aus Ingo Schulzes viel besprochenem Wende-Roman Simple Storys aus dem Jahr 1998. „Lächeln“ lehnt sich zunächst erkennbar an eine Erzählung des einflussreichen amerikanischen Schriftstellers Raymond Carver an („Tüten“, aus der Sammlung Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden; englisches Original: „Sacks“ in: What We Talk about When When We Talk about Love, 1981]). In beiden Erzählungen trifft ein Sohn auf einen Vater, der vor einiger Zeit die Familie verlassen hat. Der Vater macht vor dem Sohn ein ausführliches Geständnis, das seine Beweggründe rechtfertigt und gibt dem Sohn in beiden Fällen ein banales Geschenk – bei Carver eine Tüte voller Pralinen und bei Schulze ein Paar handgemachter Topflappen.
In „Lächeln“ hat der Vater, der sich vor 24 Jahren aus der DDR in den Westen abgesetzt hatte, nur sporadischen Kontakt zur Familie und zu seinem Sohn Martin, dem er wiederum bei der Geburt dessen Sohnes sowie beim Tod dessen Frau jeweils 100-Mark Scheine zukommen lässt. Dazu noch ist der Vater Träger einer eigennützig wirkenden religiösen Botschaft, die er „wie für einen Vortrag präpariert“ (105) kundgibt. Nach einem Schlaganfall, der bei ihm zu einer teilweisen Lähmung führt, ist er zum glühenden Anhänger einer ungenannten christlichen Sekte geworden. Der Witz bei der Sache besteht darin, dass er erst dann zur wahren Religiosität gelangt, als seine Frau mit einem Sektenprediger, der das Ehepaar zwecks Bekehrung aufsucht, durchbrennt:
„So sind sie, dachte ich. Das steckt hinter der Frömmelei. So simpel ist die Welt. Ich war ein leidenschaftlicher Masochist. Aber –“, sagte mein Vater und kniff die Augen zusammen, als lache er im Voraus über einen Witz, „weißt du was, mein Junge? Da erst begann mein Leben. Allein? Eben nicht? Nie zuvor war mir Jesus Christus so nah wie in diesem Moment! Wer sind wir denn, daß wir uns an den Menschen stören, die uns die Botschaft überbringen? Wer sind wir denn?“ (109)
Diese paradoxe Wende im Leben des Vaters ist nicht nur eine religiöse, sondern auch eine soziale. Nach dem Schlaganfall und Weggang seiner Frau helfen ihm die „Brüder und Schwestern“ der Sekte, wieder zu einem eigenständigen Leben zu gelangen und die zwei Topflappen zu stricken, die beide mit einem achtzackigen Stern versehen sind. Der Sohn, der von der väterlichen Saulus-zu-Paulus-Geschichte zunächst wenig berührt zu sein scheint, hängt die Lappen neben seinem Herd auf, „so daß ich, wenn ich sie brauche, nur den Arm ausstrecken muß“. (111)
Soweit ist die Erzählung noch mit postmodernen Normen gut vereinbar. Die Geschichte selbst wiederholt mit leichter Verschiebung das Muster einer bereits vorhandenen Erzählung. Die religiöse Bekehrung des Vaters ist in erster Linie durch Zufall und Eigennutz bedingt, seine fromme Botschaft ist alles anders als ansteckend, und die väterliche Gabe an den Sohn ist trivial. Auch die Sprache der Erzählung bleibt lakonisch und ohne emotionalen Tiefgang. Doch die Begegnung mit dem Vater bewirkt tatsächlich eine Veränderung im Sohn – wenngleich nicht im Sinne einer religiösen Verwandlung. Dies vermerkt der Sohn auch am Anfang seiner Erzählung: „Ich würde sogar sagen, ich bin ein anderer Mensch geworden“. (101) Während des Gesprächs mit dem fromm gewordenen Vater wird der Sohn selbst plötzlich zu einem Geständnis bewegt: er habe seiner Frau den Tod gewünscht, und dieser sei dann tatsächlich eingetreten. Daraufhin spricht ihn der Vater von seiner Schuld frei („Wahrscheinlich hast du sie nicht richtig geliebt oder nicht lang genug“ [106]) und, um das Ritual zu vollenden, reicht er ihm einen Keks – eine Art Hostie –, den er gleich in den Mund legt und verzehrt. Auf diese Weise entsteht tatsächlich eine Art Ausgleich zwischen dem Vater und dem entfremdeten Sohn. Die geschenkten Topflappen, die beim Herd hängen und dem Sohn stets zuhanden sind, stehen nicht nur für die Anwesenheit des leiblichen Vaters, sondern auch für die Anwesenheit eines Gottesvaters, dessen versöhnende Wirkung zwar nicht erwiesen, aber auch nicht widerlegt wird.
Warum ist diese Erzählung nicht mehr postmodern? Entscheidend ist nicht die Wiederkehr des Tiefsinns, der psychologischen Einfühlsamkeit oder des religiös verbürgten Glaubens, denn nichts davon macht sich hier bemerkbar. Entscheidend ist vielmehr die formale Machart der Erzählung, die darauf ausgerichtet ist, uns an die Vater-Sohn-Versöhnung trotz deren erkennbarer Oberflächlichkeit glauben zu lassen. Anders gesagt: Das Schema der Erzählung, das uns normalerweise ironisch die Unmöglichkeit der Versöhnung zweier Menschen vorführen würde (dafür steht der luft-entleerte Ballon am Ende von Barthelmes Erzählung), bietet uns hier das Gelingen einer solchen Annäherung, die hier durch die als zugleich banalen wie göttlich gekennzeichneten Topflappen angezeigt wird. Entscheidend ist weder für den Erzähler noch für den Leser die religiöse Botschaft, sondern die formal gelungene Tatsache der Versöhnung zweier entfremdeter Menschen durch eine Art spontan entstehender, gegenseitiger Beichte. Dabei handelt es sich nicht so sehr um eine inhaltliche als um eine performative Leistung, die per formam – durch die Form hindurch – zustande kommt. Die Ironie und Erkenntniskritik der Postmoderne sind zwar immer noch im Erzähltext angelegt, sie werden aber ausgeschaltet durch ein Ereignis, eine positive Veränderung im Zustand des Erzählers. Die im Titel zitierten Lächeln der Besucher des Cafés, wo Vater und Sohn sich treffen, sind daher nicht ironisch zu deuten. Der Ausgang der Geschichte baut den Erzähler letzten Endes auf, anstatt ihn – wie in „Der Ballon“ – zu einem kleinen Haufen zusammenschrumpfen zu lassen. Dieses Muster – die Beschwörung einer ironieträchtigen Situation, die dann doch lebensaffirmierend ausfällt –, ist typisch für sehr viele Erzählungen, die um die Jahrtausendwende und danach entstehen. Weil zu dieser Zeit vergleichbare performative Setzungen auch in anderen Medien (Film, bildender Kunst, Fotografie, Drama, Architektur) auftreten, habe ich diese nicht mehr postmoderne Entwicklung „Performatismus“ genannt und deren Grundzüge systematisch zu erfassen versucht.
Wie der Performatismus in einem visuellen Kontext funktioniert, lässt sich am Beispiel eines Werks des weltbekannten deutschen Fotografen Andreas Gursky zeigen. Gursky, der zunächst als braver Becher-Schüler anfing (er fotografierte triste Landschaften oder starre, räumlich eingeschlossene Menschengruppen), begann Anfang der 90er Jahre Fotos anzufertigen, die mit den anti-ästhetischen Normen der postmodernen Fotografie entschieden brachen. Dabei ging es Gursky nicht darum, die Praktiken der Moderne wieder aufzuwärmen. Bei den großen Fotografen der klassischen Moderne kam es darauf an, die Schönheit der Welt entweder durch Verfremdung (Verkantung der Kamera, ungewöhnliche Perspektiven) oder durch technisches Können (Gebrauch des Zonensystems, spezielle Dunkelkammertechniken) freizulegen. Exemplarisch für die erste der beiden Richtungen stehen Fotografen wie Alexander Rodtschenko oder Andreas Feininger, für zweitere Edward Weston oder Anselm Adams. Gurskys Farbbilder sind auch im konventionellen Sinne als schön zu betrachten – sie sind gekennzeichnet durch bunte, lebendig wirkende Muster und anziehende, streng durchdachte Kompositionen. Entscheidend bei Gursky ist jedoch das, was ich eine gottesähnliche oder „theistische“ Perspektive nenne. Gurskys Bilder sind zunächst extrem groß – ein eher kleines Format bei ihm misst zwei mal drei Meter – und zwingen dem Betrachter zwei wechselnde Perspektiven auf: eine aus der Distanz, welche die Gesamtheit der Bildfläche erfasst, und eine aus der Nähe, wobei der Betrachter Bezüge zwischen den unzähligen bunten Details herzustellen versucht. Eine weitere Eigenart seiner Bilder besteht in der digitalen Nacharbeitung. Dies geschieht zum Teil unmerklich, wenn zum Beispiel in Rhein II (1999) eine Fabrik am Rheinufer digital gelöscht wird (Abb. 4), zum Teil aber auch sehr deutlich, wie z. B. in Bahrain I (2005), wenn eine Formel 1-Rennbahn zu einem unbefahrbaren Labyrinth mutiert. Sehr stark spürbar ist jedenfalls die konstruierende, „göttliche“ Perspektive des Fotografen (Gursky selbst spricht hier von einer „außerplanetarischen Perspektive“). Der Fotograf verfügt nicht nur über die Fähigkeit, die Welt in extremer, erhabener Größe und mit all ihren schönen Einzelheiten zu reproduzieren, sondern auch in jene Welt konstruierend einzugreifen. Ein gutes Beispiel liefert das bereits erwähnte Rhein II. Das Foto, das 1,85 x 3,63 m misst, zeigt das, was zunächst wie ein trübes Becher-Panorama in Farbe anmutet: Es sind insgesamt sechs parallele Streifen, die das grüne, nahe Ufer des Rheins, einen asphaltierten Weg, den silbernen Streifen des Rheins selbst, das ferne Ufer des Rheins und schließlich einen grauen, matten Horizont darstellen. Der Mangel an räumlicher Tiefendimension lässt das Naturbild gleichzeitig wie ein abstraktes Gemälde aussehen. Wie bei den meisten Bildern von Gursky wechselt man als Zuschauer zwischen einem erhabenen, quasigöttlichen Fernblick auf das Ganze und einem spezifisch menschlichen Interesse an den schönen, sinnlichen Details der einzelnen Streifen.
Abb.4
Das Foto pendelt zwischen Abstraktion und Repräsentation, zwischen Künstlichkeit und Wiedergabe der Naturschönheit, zwischen dem Schönen und dem Erhabenen. Das, was wir erleben, ist gewissermaßen die Struktur des Glaubens selbst, also das dynamische Zusammenspiel einer menschlichen und einer übermenschlichen Position. Dies steht in krassem Gegensatz zum Werk der Bechers, das jegliche Naturschönheit durch die mechanistische, wenig künstlerische Art der Aufnahme unterdrückt. Dabei nehmen die beiden Fotografen jeweils eine betont „diesseitige“ Position ein, und zwar durch die seriellen, kleinformatigen Aufnahmen, die stets aus einer ähnlichen Bodenperspektive erfolgen. (Eine kleinere Pointe besteht zudem darin, dass Gursky gerade jene Art von Fabrik aus seinem Bild löscht, die im Mittelpunkt der Becher-Bilder stehen würde.) Gurskys Bild zwingt uns förmlich dazu, an eine ganzheitliche, kunst- und naturschöne Welt samt deren Details zu glauben. Die Arbeiten der Bechers zwingen uns hingegen, eine unschöne Welt durch Herausarbeitung der Differenzen in den Baudetails konzeptuell zu erschließen. Die ästhetische Restwirkung der Becher-Bilder ist ironisch: Sie erfolgt trotzt der Absicht der Fotografen, möglichst unästhetisch vorzugehen. Gurskys Bild dagegen ist in seinem Grundgestus ästhetisch affirmierend. Weltliche Schönheit und eine höhere Perspektive schließen einander nicht aus, sondern ergänzen sich gegenseitig, und diese dynamische Einheit überträgt sich direkt auf den Zuschauer (er kann sich dieser jedenfalls nicht formal entziehen). Dass Gurskys Welt auch die Möglichkeit des digitalen Betrugs enthält, tut dieser Weltbejahung keinen Abbruch, denn die Struktur des Glaubens schließt Zweifel immer bereits mit ein. Dennoch wirken Gurskys Bilder immer etwas weltentrückt, weil in ihnen Menschen entweder nicht vorkommen, oder wenn, dann nur als Typen und nicht als Individuen (vgl. seine Bilder der vietnamesischen Korbflechter [Nha Trang, 2004] oder der Börsenmakler in Kuwait Stock Exchange [2007]). Nicht umsonst wird er häufig zum Dokumentaristen der Globalisierung erklärt, also jener ökonomischen Gesamtentwicklung, in der der Mensch häufig zu kurz kommt. Gurskys Bilder üben keine ätzende Kritik an diesem Zustand aus, aber sie zwingen uns, sowohl die Faszination als auch die Bedrohung zu erleben, die von der Globalisierung ausgehen. Dies erfolgt weniger konzeptuell als im Modus der Anschauung, also durch eine unmittelbar erfahrbare ästhetische oder sensorische Einwirkung.
In Gurskys Fotos kommt eine transzendente Perspektive „von oben“ zur Geltung. Diese künstlerische Ausrichtung auf Transzendenz wird in der performatistischen Architektur durch die Inszenierung von Form, Volumen und Fläche verstärkt.
Ausgangspunkt ist das, was ich einen ornamentalen oder transzendenten Funktionalismus nenne. Gemeint ist, dass diese neue, nicht mehr postmoderne Architektur scheinbar funktionale Formelemente der Moderne aufgreift – in der Regel sind es strenge geometrische Formen wie Vierecke, Dreiecke, Ellipsen, Kreise, Würfel usw. – und diese betont funktional unsinnig oder rein ornamental einsetzt. Dies bedeutet, dass man gleichzeitig gegen das strenge „Form-folgt-Funktion“-Dogma der Moderne und gegen den stilistischen Eklektizismus der Postmoderne verstößt. Ziel dieser Verstöße ist nicht die ironische Relativierung verschiedener Stilrichtungen, sondern die Inszenierung eines Transzendenzstrebens, das mit der Überwindung der Materialität selbst spielt. So wird schwerer Baustoff durchsichtig, beweglich, bedrohlich, zeigend, einrahmend, zentrierend. Er scheint die Überwindung der eigenen Schwere und Bewegungslosigkeit anzustreben bzw. einem eigenen, unsichtbaren Ordnungsimperativ zu folgen, den ich „theistisch“ nenne. Es ist, als ob der Bauplan von einem unsichtbaren, gottähnlichen Architekten stamme, der allerdings durchaus menschliche, fehlbare Züge aufweist.
Abb.5
Abb.6
Die Grundzüge dieses transzendenten Strebens lassen sich an Stefan Braunfels’ 2002 errichteter Pinakothek der Moderne in München gut veranschaulichen. Die Fassade des Gebäudes (Abb. 5) besteht aus strengen, modernistisch wirkenden Formen, die jedoch bei genauer Betrachtung keine erkennbare Funktion aufweisen. Die merkwürdig dünnen Säulen stehen in unregelmäßigen, beliebigen Abständen zueinander, wobei sie scheinbar ohne eine tragende Funktion ein überflüssiges, in der Luft schwebendes Zwischendach durchdringen, das zudem eine räumlich verschwenderische Dreieckform annimmt (Abb. 6). Bemerkenswert ist auch der Spalt zwischen den zwei Dächern. Dieser verweist auf die Unvollkommenheit des ansonsten streng durchdachten Konstrukts, lässt den Blick auf den freien Himmel zu – und hat sonst keine erkennbare Funktion. Der Gesamteffekt ist der einer streng funktionalen Ordnung, deren bestimmende Regeln oder Prinzipien jenseits unserer unmittelbaren Erkenntnis liegen, und zwar in einer höheren Welt, die durch den Architekten unvollkommen vermittelt wird. Wir können selbst – quasi durch den Dachspalt – einen Blick auf diese höhere Welt werfen, aber wir können sie nicht näher verstehen oder gar ergründen. Auch hier wird die Struktur des Glaubens durchgespielt. Wir werden gezwungen, durch „sinnlose“ architektonische Formen an das Wirken einer höheren Instanz zu glauben, deren Absichten wir nicht mit rationalen Mitteln erfassen können.
Dieses architektonische Transzendenzstreben ergibt sich nicht aus einem bestimmten Glaubensansatz, sondern aus dem Bestreben des neuen Stils, sich sowohl vom modernen Funktionalismus als auch vom zitierfreudigen Eklektizismus der Postmoderne abzusetzen. Zwar könnte man vielleicht immer noch behaupten, dieser Stil sei in seiner spielerischen Geste postmodern. Allerdings wäre die Bestimmung einer solchen Postmoderne in der Tat völlig beliebig. Man hätte es mit einer Postmoderne zu tun, die plötzlich vom eklektizistischen Zitieren der verschiedensten Stilrichtungen auf den Einsatz stilistisch einheitlich wirkender geometrischer Formen umgeschwenkt hätte. Doch geht es hier vielmehr um die Inszenierung von Einheit und Transzendenz – also um einen Gestus, der für die Postmoderne keinesfalls annehmbar ist.
Glaube, Kultur und Performatismus
Die oben skizzierten Beispiele sind Teil einer gesamtkulturellen, epochalen Wende, deren Details in den folgenden Kapiteln näher erläutert werden. Das Hauptmerkmal dieser neuen Epoche lässt sich zunächst folgendermaßen auf den Punkt bringen: Es wird dabei der Versuch unternommen, durch formale ästhetische Mittel Zuschauer, Leser oder Beobachter zu zwingen, an etwas (zunächst nicht näher Bestimmbares) zu glauben. Dieser Glaube hat keinen im Voraus benennbaren Inhalt und ist nicht in erster Linie religiös zu verstehen. Vielmehr wird er durch ästhetische Verfahren erzeugt, die verbindliche Vertrauensverhältnisse zwischen zwei Menschen stiften, die uns Einheit (vor allem zwischen Kultur und Natur) erfahren lassen, und die eine nicht rational verständliche, transzendente oder „göttliche“ Ordnung intuitiv – also eher über die Sinne als über den Verstand – vermitteln. Diese Ästhetik ist wohlgemerkt kein naiver Vermittler von Glückseligkeit oder Hoffnung. Grund dafür ist unsere durchgehend säkulare Befindlichkeit, die allen kulturellen Erscheinungen mit grundsätzlicher Skepsis und mit ironischer Distanz begegnet; dies geschieht umso intensiver durch die Einwirkung der Postmoderne. Aufgrund dieser Skepsis können wir nicht mehr von einer über alle Zweifel erhabenen Glaubensquelle einfach angesprochen werden. Vielmehr müssen wir gewissermaßen „hereingelegt“ werden, damit wir uns in eine glaubende Haltung begeben. Dies kann nur durch formale, ästhetische vermittelte „Tricks“ geschehen, d. h. anhand von künstlerischen Mitteln, die uns kaum eine andere Wahl lassen, als an ein bestimmtes Etwas in einem Werk zu glauben. Diese Paradoxie – dass Glauben nur künstlich, durch formale Finten zustande kommt – verleiht der neuen Entwicklung ihre ästhetische und auch ethische Eigenart. Das auf diese Weise erreichte Glaubensmoment schaltet den kritischen Verstand und die ironische Skepsis der Postmoderne nicht völlig aus, doch sie zwingt diese, in den Hintergrund zu treten. Rein rational würden wir niemals auf die Idee kommen, geschweige denn glauben, dass die Topflappen in „Lächeln“ göttlichen Ursprungs sind, wir werden angesichts der äußerlichen Perfektion der Landschaft in Rhein II skeptisch bleiben und wir können die kuriose architektonische Ordnung der Pinakothek der Moderne nach wie vor als bloße Spielerei von der Hand weisen. Dennoch können wir uns nur schwerlich dem formalen Zwang entziehen, der von diesen Werken ausgeht und uns Eigenschaften wie Versöhnung, Schönheit, Einheit oder Erhabenheit vermittelt.
Während sich die charakteristischen Formen und Grundzüge dieser neuen Entwicklung einigermaßen klar beschreiben lassen, ist es sehr viel schwieriger zu begründen, warum es zu dieser Wende gekommen ist. Im Vordergrund steht sicherlich ein Überdruss angesichts der ironischen Verfahren und erkenntniskritischen Strategien der Postmoderne, die uns inzwischen allzu vertraut erscheinen und folglich nicht mehr wirksam sind. Wann genau dieser Überdruss einsetzt, lässt sich nicht an einem konkreten Datum oder Werk festmachen. Grob gesagt, scheint sich die Gegenbewegung zur Postmoderne Mitte bis Ende der 90er Jahre herauskristallisiert zu haben, markiert etwa durch die dänischen Dogme-95 Filme (Dogme #1, Das Fest, 1998), durch literarische Werke wie Schulzes Simple Storys (1998) oder David Foster Wallaces Unendlicher Spaß (amerikanisches Original: Infinite Jest, 1996), durch die Fotografien von Andreas Gursky und Thomas Demand (Anfang der 90er Jahre) oder durch Bauten wie das Paul-Löbe-Haus (Stefan Braunfels, Entwurf 1994) oder das Krematorium im Berliner Baumschulenweg (Axel Schultes und Charlotte Frank, Entwurf 1996).
Epochenwechsel dieser Art gehen stets Hand in Hand mit gesellschaftlichen Veränderungen. Dennoch ist es schwer zu sagen, wie das kulturell erzeugte Selbstbild einer Gesellschaft und deren sozio-ökonomische Wirklichkeit kausal zusammenhängen. Denn diese „Wirklichkeit“ ist häufig überhaupt erst mittels der kulturellen Selbstbespiegelung zugänglich, die wiederum dringende soziale Probleme zum Anlass nimmt, neue künstlerische Strategien zu entwickeln und auszuprobieren.
Zwei Faktoren, die als treibende Kraft hinter der neuen kulturellen Entwicklung infrage kommen, sind Globalisierung und Digitalisierung. Der Zusammenbruch des Kommunismus um 1990 herum und der schnelle Einzug des Kapitalismus in das damalige Osteuropa schufen eine Situation, in der klassisches Lagerdenken faktisch nicht mehr möglich war, schlicht, weil es keine Lager mehr gab. Auf diese Situation konnte man natürlich zunächst noch mit der kritischen Ironie der Postmoderne reagieren; dies tat man auch eine ganze Zeit lang sowohl im Osten als auch im Westen. Allerdings begannen sich zwei neue Haltungen herauszukristallisieren, mit denen man der neuen Situation begegnete. Man begann nach positiver Wertbildung im Kleinen zu suchen (meist mit Zweierbeziehungen jeglicher Art als Grundbaustein). Dies sieht man bei Ingo Schulze, aber auch bei einer Vielzahl von Schriftstellern und Filmemachern der späten 90er Jahre und danach. Dadurch entstehen kleinere, abgeschlossene soziale Freiräume oder „Blasen“, wie der Philosoph Peter Sloterdijk dies 1998 in einem gleichnamigen Buch ausdrücken wird. Umgekehrt beginnt man damit, die Globalisierung als Gesamtphänomen zu thematisieren. Dies geschieht eben nicht länger aus dem ironischen, endlosen Regress der postmodernen Ideologiekritik mitsamt ihrer typischen Anti-Ästhetik heraus, sondern durch Darstellungen aus der Höhenperspektive wie bei Gursky, die sowohl das Anziehende als auch das Bedrohliche an der Globalisierung festhalten (Sloterdijk spricht hier von „Sphären“ oder „Globen“). Schließlich hat der Fall der Mauer in Deutschland ganz konkret zu einer massiven Verschiebung im Architekturstil geführt. Das neu entstandene Berliner Regierungsviertel und sämtliche Neubauten in Berlin nach dem Mauerfall (Potsdamer Platz, Botschaftsviertel usw.) haben architektonisch mehr mit der performatistischen Pinakothek der Moderne als mit der postmodernen Neuen Staatsgalerie in Stuttgart gemeinsam. Offenbar wollte man angesichts der schlagartig neuen Situation neue architektonische Akzente setzen, die nicht bloß Bekanntes zitieren, sondern Transzendentes stillschweigend vermitteln.
Dagegen spielt die für die zwischenmenschliche Kommunikation und für die Popkultur enorm wichtige Digitalisierung eine weniger ausschlaggebende Rolle in der Hochkultur, um die es hier hauptsächlich geht. Zwar ermöglichen die sozialen Medien und digitale Technik (Facebook, YouTube, Blogs, Handy-Apps, Skype usw.) durch ihre weltumspannende Struktur und sofortige Verfügbarkeit eine gleichzeitig globale oder „göttliche“ und eine unmittelbare oder „menschliche“ Perspektive, die der Wirkungsweise des Performatismus formal entspricht. Ob sie aber die grundlegenden Mechanismen der Hochkultur wirklich nachhaltig verändern, bleibt aus meiner Sicht zweifelhaft. Filme, Literatur, Fotografien und selbst interaktive Videospiele werden von hochprofessionellen Kulturträgern produziert, sind rechtlich geschützt und können von Konsumenten nicht beliebig verändert oder beeinflusst werden. Spontan erzeugte, digitalisierte Werke von Amateuren können mit diesen Produkten in der Regel nicht mithalten. Seriöse Romane in Twitter-Form, viral gewordene Blogs und millionenfach angeklickte YouTube-Beiträge sind die Ausnahmen, die die Regel eher bestätigen. Der Digitalisierung kommt zugegebenermaßen eine wichtige technische Funktion in Film, Fotografie und Architektur zu und spielt somit als Thema natürlich immer wieder eine zentrale Rolle. Sie ist aber dezidiert nicht die treibende Kraft hinter der performatistischen Wende. Kultur wird in erster Linie von Menschen und nicht von Medien gemacht, die mal so oder mal so eingesetzt werden können.
Insgesamt lässt sich der Performatismus soziokulturell als eine spezifische Reaktion auf den globalen Durchmarsch des Kapitalismus verstehen. Während sich die Moderne noch nach der utopischen Überwindung des Kapitalismus sehnte (und den Kommunismus und Nationalsozialismus hervorbrachte), versuchte die Postmoderne den Widerstand gegen den Kapitalismus von der Peripherie aus zu fördern (daher der Fokus auf die ausgegrenzten Anderen in der Dritten Welt), oder aber als ironisches Spiel mit der Konsumkultur zu inszenieren. Erstere Art von Kritik verlor allerdings durch die Globalisierung die vermeintlich letzte Quelle des Widerstandes und Letztere wurde durch die unaufhörliche Wiederholung stumpf. Heute spricht niemand mehr von einer „Dritten Welt“, die sich dem Kapitalismus irgendwie entwinden könnte, und die ironische Aneignung kapitalistischer Konsumobjekte und -werte ist zum faden und vorhersehbaren Spiel verkommen. Infolge des globalen Siegeszuges des Kapitalismus kommt es daher zu anderen Arten des Widerstandes oder Sich-Abfindens mit diesem Zustand. So bilden sich jetzt im Inneren des globalen Kapitalismus abgekapselte Freiräume, von denen aus man eigene Identität oder eigene Werte zu stiften versucht. Der getrennte, aber über sich selbst hinausstrebende performatistische Mensch ist der kulturelle Ausdruck dieses Widerstandes, der mit anderen zusammen eine positive Wertbildung im Kleinen intuitiv eingeht (Vater und Sohn in „Lächeln“ bilden ein solches Paar). Darüber hinaus sucht man auf politischer Ebene nach umfassenden Glaubenskonzepten, die ganze Nationen zusammenbringen. Das politische Programm des amerikanischen Präsidenten Barack Obamas aus dem Jahr 2008, das links und rechts erfolglos zusammenzuführen versuchte, oder das eher bedenkliche Aufleben nationalistischer Programme in verschiedenen west- und osteuropäischen Ländern sind Beispiele glaubensgesteuerter politischer Bewegungen, die auf die Globalisierung reagieren. Die Diskussion solcher politischen Tendenzen, deren Entwicklung keineswegs abgeschlossen ist und deren Folgen für die Kultur noch weitgehend offen sind, geht allerdings weit über den Rahmen dieser Abhandlung hinaus.
Es bleibt jedoch eine grundsätzliche Frage bestehen, nämlich: „Warum diese Wende hin zu ästhetisch vermitteltem Glauben?“ Diese Entwicklung wird verständlicher, wenn man Glaube nicht institutionell oder metaphysisch, sondern vielmehr kulturanthropologisch versteht, als eine im Menschen verankerte Grundeigenschaft, die ermöglicht, dass gesellschaftliches Leben überhaupt zustande kommt. Glaube ist somit nicht nur eine Sache des Individuums oder der Kirche, sondern notwendig, damit eine Gesellschaft überhaupt funktioniert. Dies gilt im Übrigen auch für säkulare Gesellschaften wie die unsere, in denen Religion nicht mehr eine bestimmende Rolle spielt.
Die Vorstellung, dass Glaube (bzw. Religion) eine tragende soziale Funktion auch in säkularen Gesellschaften hat, geht auf den französischen Soziologen Emile Durkheim (1858-1917) zurück. Vertreter dieser Ansicht in jüngster Zeit sind der französische Literatur- und Kulturtheoretiker René Girard (1923-2015) sowie der amerikanische Kulturtheoretiker Eric Gans (geb. 1941). Dabei ist die sogenannte Generative Anthropologie, die von Gans entwickelt wurde, für das Verständnis des Performatismus grundlegend. Girard und Gans gehen davon aus, dass Mimesis bzw. Nachahmung das menschliche Verhalten maßgeblich bestimmt. Nachahmung bringt aber nicht nur Vorteile, sondern auch ernsthafte Probleme mit sich. Wenn man zum Beispiel das Besitzverhalten eines anderen nachahmt, kommt es unweigerlich zum Streit. Hat jemand anders etwas, was ich nicht habe, und versuche ich, ihm dieses Ding zu entreißen, kommt es unweigerlich zu einem Akt der Gewalt. Dieser Gewaltakt ist selbst in hohem Maße „ansteckend“ – er wird von anderen nachgeahmt und breitet sich auf eine ganze Gemeinschaft aus. Girard behauptet, dieser ansteckende, spiralartig wachsende Ausbruch der Gewalt könne nur dadurch aufgehalten werden, dass man jemanden anderen – einen Sündenbock also – opfere. Dabei erlangt der erschlagene Sündenbock einen kuriosen Status in der Gemeinschaft. Einerseits ist er an der Gewalt schuld und verachtungswürdig, andererseits aber nimmt er göttliche oder sakrale Qualitäten an, weil sein Tod die Gemeinschaft von der Gewalt – wenn auch zumindest vorläufig – erlöst. Die Beförderung des Sündenbocks ins Jenseits (der französische Ausdruck dafür ist bouc émissaire, also der „hinausgeschickte Bock“) macht diesen zum Gott oder Quasi-Gott – zumindest solange, bis die nächste Runde der Gewalt anbricht. Girard, der dieses Muster bei allen Kulturgründungen belegen zu können glaubt, erweist sich jedoch selbst als Apologet für die katholische Kirche. So sei Jesus Christus das ultimative Opfer, das alle weiteren unnötig mache. Abgesehen davon, dass die Geschichte der römisch-katholischen Kirche bekanntermaßen nicht unbedingt gewaltfrei verlaufen ist, erklärt Girards Modell den geschichtlichen Vorgang der Säkularisierung nicht. Denn diese schlichtet Streit nicht durch Opferungen oder Riten, die an die ursprünglichen Opfervorgänge erinnern, sondern durch Gesetze, durch institutionelle Kontrollen, durch die demokratische Verteilung von knappen Ressourcen und dergleichen. Die neuere Geschichte unserer Kultur ist geradezu die Geschichte der institutionellen (und nicht rituellen) Verdrängung von direkt erlebten Rache-Gelüsten.
Eric Gans’ Generative Anthropologie (die er 1978 zu entwickeln begann und 1985 in seinem Buch The End of Culture an die Öffentlichkeit brachte), schreibt Girards Thesen derart um, dass beim mimetischen Ur-Streit ein sprachliches Zeichen das Opfer ersetzt. Gans entwirft eine hypothetische Situation, in der zwei sprachlose Urmenschen um den Besitz eines Gegenstandes in Streit geraten. Wenn der erste Urmensch jedoch – statt gewalttätig zu werden – ein Zeichen von sich gibt, das klar macht, dass er auf Gewalt verzichten möchte, und wenn der zweite Urmensch dieses Zeichen spontan annimmt, dann entsteht eine Situation, in der der Streit aufgeschoben wird. Anstelle des Opfers wird das Zeichen geheiligt (in allen primitiven Kulturen und weit darüber hinaus gibt es solche „verbotenen“, heiligen Worte). Dadurch erfolgt die für alle Kulturen gültige Trennung zwischen dem profanen, alltäglichen und dem sakralen oder kultischen Bereich. Wichtig in unserem Zusammenhang ist, dass diese Art von Urzeichen als eine performative Einheit wirkt. Das Urzeichen hat keine Bedeutung im üblichen Sinne, sondern entfaltet eine Kraft, die Streit schlichtet und Gewalt aufschiebt – es tut etwas, indem es eine Situation schafft, in der zwei Menschen sich (vorläufig) versöhnen. Allerdings ist diese Versöhnung keineswegs endgültig, denn der Streit wird nicht aufgehoben, sondern lediglich aufgeschoben. Hier entstehen Ressentiments, die in der endlosen Erweiterung der ursprünglichen Zeichensetzung aufgearbeitet werden müssen. Dabei hat das ostensive Urzeichen drei Modalitäten: (a) eine sakrale, (b) eine ökonomische bzw. politische und (c) eine ästhetische. Im sakralen Modus erzeugt das fleischliche, weltliche Ding Ressentiments, denn es blockiert unseren Zugang zum heiligen Zeichen. Im ökonomischen Modus ist es wiederum das Zeichen, das unseren Zugang zum Ding blockiert, denn es täuscht darüber hinweg, dass es nicht genug von dem Ding zu verteilen gibt – ein Zustand, der unumgänglich Ressentiments hervorruft. Im ästhetischen Modus dagegen herrscht ein desinteressierter Abstand, der unsere Aufmerksamkeit zwischen Zeichen und Ding in einem fort oszillieren lässt. In einem solchen Fall genießen wir die Darstellung von etwas Dinglichem durch ein Zeichen, ohne direkt Wert daraus schlagen zu können. Dieses Oszillieren zwischen Zeichen und Ding schafft einen Freiraum, der zwar den Grundkonflikt nicht löst, der aber vorübergehend weltliche Streitereien in den Hintergrund treten lässt.
Das Urzeichen wird von Gans ein ostensives Zeichen genannt, weil es auf etwas unmittelbar Gegenwärtiges verweist (ostensiv bedeutet „zeigend“ oder „anschaulich machend“). Die Emission oder „Hinaussendung“ des ostensiven Zeichens hat ähnliche weit reichende Folgen wie bei Girards Opfer-Erschlagung: Es begründet Kultur, Religion und Kunst und ermöglicht die Entwicklung komplexerer sprachlichen und gesellschaftlichen Strukturen. Dabei wird klar, dass die grundlegende Funktion der Sprache nicht Täuschung ist, sondern Versöhnung, und dass diese Versöhnung immer eine sakrale „Aufladung“ hat, auch wenn sich dies nicht in institutionalisierter religiöser Form äußert. Anders ausgedrückt: die Sprache (bzw. das ostensive Zeichen) rettet vor Gewalt, und diese Aussicht auf Erlösung von irdischem Streit hat stets einen sakralen oder quasireligiösen Charakter. Dies gilt insbesondere für moderne Gesellschaften, in denen religiöse Riten und Institutionen unser Zusammenleben nicht mehr umfassend bestimmen.
Wie hängt dieses hypothetische Modell nun mit dem Performatismus zusammen? Zunächst einmal geht es nicht darum, ob Gans’ Modell die menschliche Kulturgründung erschöpfend erklärt, wie Gans behauptet. Vielmehr scheint sein Zeichenmodell die sprachliche und ethische Situation treffend zu erfassen, die gerade nach dem Ende der Postmoderne aufkommt. In dieser Situation trifft man immer wieder auf fiktive Charaktere, die sich durch die Setzung eines einfachen, einheitlichen Zeichens versöhnen lassen. Dabei erfolgt diese Versöhnung spontan oder intuitiv, d. h. in der Manier der von Gans beschriebenen Urszene, und die Versöhnung trägt häufig (wenngleich nicht immer) sakrale Züge oder Nuancen. Dies ist beispielsweise der Fall in „Lächeln“: Die mit einem achtzackigen Stern versehenen Topflappen lassen – zumindest vorübergehend und auf niedrigem Niveau – eine performative Einheit zwischen Vater und Sohn entstehen. Auf der visuellen Ebene lässt sich etwas Ähnliches beobachten. In Gurskys Rhein II oszilliert unsere Aufmerksamkeit aufgrund der kuriosen Vollkommenheit der abgebildeten Szene zwischen der Künstlichkeit der Darstellung und unserem Interesse am dargestellten Objekt; Natur und Kultur fallen in eine Einheit zusammen. Auch am Beispiel der Pinakothek der Moderne begegnet man einer merkwürdigen Einheit von Funktionalität und Ornamentierung, die „nicht von dieser Welt“ zu sein scheint. Hier wird man mit erzähltechnischen und visuellen Mitteln dazu gezwungen, an eine Einheit zu glauben, die rational nicht erklärbar ist – und daher formal transzendenzverdächtig. Es handelt sich in allen drei Fällen um Performanzen, die ein Einheits- und Transzendenzgefühl erzwingen, auch wenn man die Bedingungen dafür immer noch kritisch hinterfragen kann. In allen Fällen überwiegt aber eine spezifische ästhetische Erfahrung (der Schönheit, der Einheit, des Ausgleichs, der Transzendenz usw.), die die ätzende Erkenntniskritik der Postmoderne zu verdrängen imstande ist. Diese spezifische Art von ästhetischer Erfahrung nenne ich performatistisch. In den folgenden Kapiteln wird es darum gehen, diese Ästhetik in Bezug auf Literatur, Film, Fotografie, Architektur und Philosophie näher zu beschreiben.
Quellen
Barthelme, Donald. „Der Ballon“, in: Unsägliche Praktiken, unnatürliche Akten. Frankfurt am Main 1969 [1964]; englisches Original: „The Balloon”, in: Sixty Stories, New York 1982.
Eshelman, Raoul. Performatism, or the End of Postmodernism. Aurora 2008.
Gans, Eric. The Origin of Language: A Formal Theory of Representation. Berkeley 1981.
Gans, Eric. The End of Culture: Toward a Generative Anthropology. Berkeley 1985.
Gans, Eric. Originary Thinking: Elements of Generative Anthropology. Stanford 1993.
Gans, Eric. Signs of Paradox: Irony, Resentment, and Other Mimetic Structures. Stanford 1997.
Gursky, Andreas. “I generally let things develop slowly…,” in Andreas Gursky. Fotografien 1984-1988, Toby Alleyne-Gee (Hg.). Ostfildern 1988, IX.
Schulze, Ingo. Simple Storys. Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz. Berlin 1998. 5. Auflage.
About Raoul Eshelman
I'm a Slavist teaching at the Ludwigs-Maximilian University in Munich. I've lived in Germany for over 35 years, though I remain an American citizen. I originally attended Rutgers University (New Brunswick) where I studied Political Science and German with a bit of Slavics thrown in. I spent my Junior Year Abroad in Konstanz, which I liked so much that I went back for an M.A. in Slavics. The rest of my academic career (with short stints in Rutgers Newark and Berkeley) has taken place in Germany. I received my M.A. and Ph.D. in Slavic Literature from Konstanz and did my Habilitation (the German equivalent of the "second book") in Hamburg. I've been teaching on a permanent basis in the Slavic Dept. in Munich since 2009. As of the late 1990s I became more and more interested in comparative literature and film studies; I also dabble in art, art photography, and architecture. My scholarship is now evenly divided between Russian, Czech and Comparative Literature, with the focus mainly on performatism, an epochal concept of post-postmodernism.