Die Krise der Demokratie – Zur Landtagswahl in Sachsen und Brandenburg
von Matthias Thiele
Am 1. September 2019 wählten die wahlberechtigten Einwohner Sachsens insgesamt fünf Parteien in den Landtag. Grob gesagt verteilten sich die Stimmen auf zwei Parteien zu jeweils einem Drittel und drei Parteien teilten sich das letzte Drittel.
Keine dieser Parteien repräsentiert eine Mehrheit der Einwohnerschaft des Bundeslandes, vor allem, wenn man die Wahlbeteiligung von 66% berücksichtigt.
In den Medien und in den social media wird seitdem über die möglichen Gründe des Wahlverhaltens der Sachsen und dabei hauptsächlich über das starke Ergebnis der rechtsnationalen AfD spekuliert. All diese Spekulationen aber sind nutzlos, wenn sie sich vorrangig auf Motive der Wähler, auf Wahlkampfmodi der einzelnen Parteien oder die speziellen Lebenssituationen der Bevölkerung beschränken.
Tatsächlich ist hier eine deduktive, also eine vom Allgemeinen ausgehende Analyse angebracht, die die Werte der Demokratie zum Ausgangspunkt macht.
Das Parteienwahlsystem in Deutschland unterscheidet sich vom britischen und amerikanischen Wahlsystem insofern, als dort Vertreter von Landkreisen, Gemeinden oder Bundesstaaten gewählt werden, und hier, in Deutschland, Vertreter von Parteien.
Welchen Vorzug aber hat eine Demokratie gegenüber einer Diktatur oder einer Monarchie? Demokratien erzeugen Hindernisse gegen ausufernde Machtausübung. Das wesentlichste Hindernis dabei ist die Möglichkeit der Bevölkerungen, die Herrschenden ohne Blutvergießen zu entmachten. Die Möglichkeit der gewaltfreien Entmachtung ist das wesentliche Element von Demokratien. Ist diese Möglichkeit nicht mehr gegeben, hat die Demokratie ihren eigentlichen Vorzug gegenüber anderen Regierungsformen verloren.
Der Philosoph Karl Popper kritisierte das Mehrparteiensystem Deutschlands bereits 1987 mit der Begründung, dass eine im Grunde abgewählte, also entmachtete Partei durch neue Koalitionen mit kleinen Parteien durchaus ihre Regierungsmacht aufrecht erhalten könne.[1] Anders, so Popper, sei es in den Demokratien mit einem Zweiparteiensystem, in dem durch Abwahl der einen Partei diese gezwungen sei, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen, sich gemäß dem Wählerwillen neu justieren müsse, und als Opposition die Regierung kritisch zu überwachen habe.
Das starke Abschneiden der AfD in Sachsen wird oft als Protestwahl bezeichnet. Doch welche Möglichkeit bleibt den Wählern, ihre Kritik an den gegenwärtig Regierenden zu formulieren, wenn diese realiter nicht abwählbar sind? Die SPD beispielsweise erreichte 7,7% der Wählerstimmen, und wenn man die Wahlbeteiligung berücksichtigt, sogar nur etwas mehr als 5%. Dieses Ergebnis ist eine Abwahl. Und dennoch wird auch die SPD an einer neuen Regierungskoalition beteiligt sein. Auch die CDU mit ihren 33% (berücksichtigt man auch hier die Nichtwähler, sind es gerade einmal 21,4%) repräsentiert durchaus keinen mehrheitlichen Wählerwillen. In der Folge entsteht eine Koalition, an deren Zustandekommen die Bevölkerung keinen Anteil hat; die Entscheidungen liegen ausschließlich bei den Parteien.
In der historischen Bundesrepublik von den Fünfziger bis zu den Neunziger Jahren konnte sich das Parteienwahlsystem langsam etablieren, die beiden großen Parteien erfüllten mehr oder weniger die Funktionen eines Zweiparteiensystems. Doch Sachsen gehört erst seit 1990 zum Gebiet der Bundesrepublik und seine Geschichte ist seit der Nachkriegszeit von der quasi-sozialistischen Diktatur der DDR geprägt. Die tradierte Bindung von vielen Wählern Westdeutschlands an eine der beiden Großparteien gab und gibt es in Ostdeutschland nicht.
Man unterstellt heute den AfD-Wählern, sie seien Nationalisten und Rassisten. Zu einem gewissen (wahrscheinlich nicht allzu hohen) Prozentsatz stimmt diese Einschätzung sicher. Doch die Kritik an dem Wahlergebnis darauf zu reduzieren, würde die Polarisierung zwischen den als etabliert wahrgenommenen Parteien und politischen Kräften (zu denen auch die öffentlich-rechtlichen Medien zu zählen sind) und der AfD als einzige ernstzunehmende Gegen- oder Protestkraft lediglich verstärken, nicht aber im Sinne einer freiheitlichen streitfrohen Demokratie lösen.
Der Protest, der in dem Wahlergebnis eben auch eine fundamentale Rolle spielt, ist jener gegen eine Demokratie, die ihre Kernfunktionen in der Realität kaum noch erfüllt.
Karl Popper sprach von einer „offenen Gesellschaft“, die die kritischen Fähigkeiten der Menschen freilege und ermögliche. Ziel der demokratischen Herrschaftsform, so Popper, müsse es sein, sich dem Ideal dieser „offenen Gesellschaft“ anzunähern. Auch ohne die AfD ist eine Abkehr von diesem Ideal seit einigen Jahrzehnten zu beobachten. Entgegen des Wählerwillens wurden in der Vergangenheit das Sozialsystem beschnitten, unter Führung der SPD und der Grünen die erste Kriegsbeteiligung Deutschlands seit 1945 ermöglicht und einiges mehr. Die inhaltlichen Annäherungen der Parteien erzeugten eine Einschränkung des öffentlichen Debattenraums durch einen zunehmenden Konsens der politischen Kräfte und die Durchsetzung dieses Konsenses durch die öffentlichen Medien. Es steht zu befürchten, dass die AfD nicht wegen ihrer konkreten Inhalte gewählt wurde, sondern weil sie die einzige Partei ist, die sich offen gegen diesen Konsens stellt. Nicht, was sie sagt, sondern dass sie überhaupt eine echte Opposition repräsentiert, wäre dann der wesentliche Grund für ihre Wahl.
Diese Überlegungen führen zu einem anderen, ebenfalls von Karl Popper formulierten Element einer „offenen Gesellschaft“: Die größte Gefahr für eine Gesellschaft der Toleranz bestünde in den intoleranten Kräften, die durch eben diese Toleranz die Macht ergreifen und jene damit abschaffen könnten. So nachvollziehbar der Protest gegen ein mittlerweile erstarrtes demokratisches System sein mag, sollte er sich doch in seinen Inhalten der Reparatur der Debatten- und Entscheidungsfreiheiten verpflichten. Ein Protest, der sich auf die sichtbaren Schwächen der Demokratie bezieht und zum Ziel die Wiederherstellung von Debatte, Freiheit und Partizipation hat, ist gegenwärtig wünschenswert, ja dringend nötig. Wenn aber ein solcher Protest, statt die zu lösenden Probleme einer offenen Gesellschaft zu fokussieren, die weitere Einschränkung solcher Freiheiten zum Inhalt hat, handelt es sich um jene von Popper genannten „intoleranten Kräfte“, die durch die tolerante Gesellschaft zur Gefahr für die offene Gesellschaft würden. „Im Namen der Toleranz“, schreibt Popper, „sollten wir uns das Recht vorbehalten, die Intoleranz nicht zu tolerieren.“[2] Leider gibt es zuhauf Belege dafür, in welchem Maß die AfD die Toleranz und Freiheit in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft auch heute schon, aus ihrer Oppositionsrolle heraus, einzuschränken versucht.[3]
Karl Popper glaubte an die wohltuenden Einflüsse eines freien Marktes, dessen Grundlage die „offene Gesellschaft“, die als eine Ableitung aus der liberalen Gesellschaftsphilosophie verstanden werden muss, sei.
Doch die Verhältnisse haben sich in den letzten Jahrzehnten geradezu umgekehrt: Nicht etwa die offene Gesellschaft ermöglicht die freien Märkte und birgt sie als ein Element in sich, sondern die freien Märkte in ihrer expandierten Form als globalisierte Institutionen (die innerhalb ihrer Strukturen alles andere als demokratisch sind) haben das demokratische Gesellschaftssystem mittlerweile geschluckt und regulieren nun umgekehrt dieses.[4]
Die Begriffe rechts und links müssten heute, sofern man sie überhaupt beibehalten will, vollkommen neu definiert werden.
Der Kulturkampf, der heute weitgehend undiskutiert und unerkannt stattfindet, ist der
… einer urbanisierten Gesellschaftsschicht, die für die Anforderungen einer globalisierten neoliberalen Wirtschaftswelt hinreichend gut ausgebildet ist, sich für ökologische Anliegen einsetzt (sie kaufen Getreideprodukte, betreiben aber selbst keine Landwirtschaft), die die Vorteile offener Grenzen und interkultureller Gesellschaften erkennt und nutzt und entsprechend Migration befürwortet. Sie nennt sich links und wählt links. Soziale Anliegen werden von ihr aus ideologischen Gründen zwar gutgeheißen, aber da diese sie nicht betreffen, geht von dieser Schicht nur wenig Widerstand gegen die sukzessive Aufweichung echter Sozialsysteme aus,
… gegen eine eher ländliche und kleinstädtische Schicht, die die massiven Veränderungen unserer Zeit, allem voran Digitalisierung, neue Formen von Beschäftigungsverhältnissen, auch kulturell und nicht nur neoliberal globalisierte Einstellungen, das Anliegen der Umweltbewegungen und die Anforderungen an flexible, individualisierte (Berufs-)Biografien als eine Bedrohung ihrer gegenwärtigen Sicherheit und ihrer tradierten (oft auch informellen) Sozialstrukturen, empfindet.
Aus psychologischer Sicht sind es die beiden fundamentalen Urtriebe im Menschen, der nach Sicherheit und Bindung (inklusive Anbindung) einerseits und der nach Autonomie und Erweiterung des Entscheidungs- und Handlungsraumes andererseits, die (über persönliche Einstellungen) politische Präferenzen und damit das Wahlverhalten (mit-)bedingen. Werden Sicherheits- und Bindungsstrukturen zu starr, wächst in der Regel das Bedürfnis nach Autonomie. Sind allerdings die Verhältnisse unsicher und sind tradierte verlässliche Strukturen bedroht, wird das Sicherheitsbedürfnis aktiv. Widerstand gegen neue Entwicklungen, gegen Umbrüche in den Gesellschaften und gegen als experimentell wahrgenommene Innovationen ist dann zu erwarten, wenn die subjektive Einschätzung des Menschen, diese kontrollieren und handhaben zu können, eher negativ ausfällt. Das dadurch schwache Selbstwirksamkeitsgefühl gibt dem Menschen durch bange Gefühle zu verstehen, hier müssten bewährte Strukturen verteidigt werden.
Was wir heute weltweit erleben, ist eine digitale Revolution, die der industriellen Revolution in nichts nachsteht. Die Folgen sind noch unklar, selbst Fachleute können nur spekulieren. Dass auch eine eher ländliche Bevölkerung Ostdeutschlands diese globalen Verhältnisse nicht im Blick haben kann, ist nachvollziehbar. In diese Unsicherheit stößt die AfD mit der Suggestion einer möglichen Wiederherstellung eines idealen Nationalstaates, der Einrichtung einer akzeptierten Obrigkeit, die dem Einzelnen die Last der Eigenverantwortung abnehmen kann, verbunden mit einem emotionalen Leitbild, das dem der Heimatfilme der Fünfziger und Sechziger Jahre nicht unähnlich ist. Die AfD verspricht implizit, das Sicherheitsbedürfnis der Menschen zu erfüllen, etwas, das alle anderen Parteien nicht mehr versprechen können, auch wenn sie wollen.
Hier muss natürlich unterschieden werden zwischen den Wählern der AfD, unter denen es sicher einige Rechtsextreme gibt, die Mehrheit aber vermutlich in dieser Partei die derzeit einzige Möglichkeit zum Widerstand gegen eine als zu schnell empfundene gesellschaftliche Veränderung sieht, und den Granden der AfD selbst, die möglicherweise eine ganz andere Agenda verfolgen.
Wir haben es also mit drei grundsätzlichen Problemen der aktuellen Demokratie zu tun: Erstens ist das Mehrparteiensystem seit dem Beitritt der ostdeutschen Länder zum Bundesgebiet dysfunktional geworden (regierende Parteien sind nicht durch Wählerwillen zu entmachten). Zweitens geben die etablierten Parteien nur ungenügend Antwort auf die heute tatsächlich drängenden Fragen. Und drittens setzt sich zunehmend der Eindruck durch, die Parteien fühlten sich mehr finanzstarken Lobbygruppen denn der Wählerschaft verpflichtet.
Der daraus entstehende Unmut der Bevölkerung wird in jenen Bereichen sichtbar, in denen er sichtbar werden darf und kann: Erst auf den Straßen Dresdens und anderer Städte durch Pegida, dann durch hohe Wahlergebnisse der AfD. Zu einem gesunden Debattenraum einer funktionalen Demokratie aber gehört, dass jedes Bedürfnis, das hinter sich eine hinreichend große Anzahl an Menschen versammeln kann, gehört und diskutiert wird.
Aus diesen Überlegungen leitet sich eine Lösung ab, die nur wenigen Menschen, auch mir nicht, gefallen wird. Solange die AfD von den öffentlich-rechtlichen Medien und den Altparteien als Protestpartei behandelt wird, wird sie von den Wählern auch als einzig wirksame Opposition wahrgenommen und gewählt werden. Den Beweis, dass sie es besser machen könnte, und auch den Beweis ihrer öffentlichen Beteuerungen, dass sie entgegen den Einschätzungen Vieler keine rechtsextreme Partei ist, kann sie getrost der öffentlichen Wahrnehmung schuldig bleiben. Um also den demokratischen Grundgedanken zu retten, muss die AfD im Debattenraum Gehör finden und in die etablierten demokratischen Prozesse eingebunden werden. Nur so kann ihre Demokratiefähigkeit überprüft werden, und nur so kann ihr stärkstes Argument, nämlich dass sie und ihre Wähler im öffentlichen Raum diskreditiert und diskriminiert würden, wirksam entkräftet werden.
Die bisherigen etablierten Parteien inklusive der Linken fragen sich derzeit augenreibend, wie die Wahldebakel in Sachsen und Brandenburg zu erklären sind und was sie tun müssten, um künftig ein solches zu vermeiden.
Ihnen wäre zu sagen: Sagt den Menschen die Wahrheit über die politischen Angelegenheiten, so ihr sie wisst. Seid aufrichtig und positioniert euch klar und deutlich bezüglich dessen, was euch wirklich wichtig ist. Reduziert euren Opportunismus und eure Neigung zur Korruption auf das Maß, das man gemeinhin Kompromissfähigkeit nennt. Ein Großteil jetziger AfD-Wähler hätte keinen Grund mehr, dieser Partei der inszenierten Aufrichtigkeit aus Protest ihre Stimme zu schenken.
[1] https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13523345.html, Essay von Karl Popper vom 3.8.1987.
[2] Popper, Karl: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, II. Gesammelte Werke, Band 5, Mohr, Tübingen, 2003.
[3] https://www.sueddeutsche.de/kultur/afd-kulturpolitik-rechtsextremismus-gewalt-1.4578106
https://www.daserste.de/information/wissen-kultur/ttt/sendung/ndr/kulturpolitik100.html
[4] Zizek, Slavoj: Der Mut der Hoffnungslosigkeit. Fischer, Frankfurt/M., 2018
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